Seit vielen, vielen Jahren möchte ich den Ort sehen, an dem Rilke zu seinen „Duineser Elegien“ inspiriert wurde. Wenn man hohe Erwartungen an eine solche Stätte hat, ist es oft der Fall, dass man enttäuscht abreist und gar nicht versteht, worin der Zauber bestehen soll. In Rilkes Fall war, abgesehen von der traumhaften Lage, sicher ausschlaggebend, dass er dank der Grosszügigkeit seiner Mäzenin Marie von Thurn und Taxis während seiner monatelangen Aufenthalte optimaleBedingungen zum Schreiben vorfand und sich nicht um Alltägliches und Materielles sorgen musste. Er unternahm lange Spaziergänge auf den Klippen und benutzte die umfangreiche Bibliothek. Wenn die Fürstin und er Musik hören wollten, luden sie ein Streichquartett aus Triest ein, das für sie spielte. Es hat mich wirklich sehr berührt, in einem der stimmungsvoll möblierten Zimmer die vier Notenständer inklusive Noten in Quartettaufstellung vor dem Kamin zu sehen, umgeben von Sesseln und Sofas – so arrangiert, als wären die Musiker kurz mal aufgestanden. In dem Moment hatte ich das Gefühl, vor einem Tor zu einer anderen Zeit zu stehen, ganz sonderbar. Obwohl ich sonst kulinarischen Freuden nicht abgeneigt bin, hat mich hier viel eher der Hauch einer vergangenen Zeit angeweht als beim Anblick der kostbar gedeckten Tafel im Speisezimmer! Aus solchen Umständen kann man nur erahnen, dass Rilke hier eine Umgebung vorfand, von der jeder Künstler nur träumen kann.
Was er sicher empfand, war das, was für uns heutige Besucher noch spürbar ist: Duino ist ein Ort seltener Schönheit. Ein Schloss wie im Traum oder im Märchen. Auf hohen Klippen gelegen, mit kreischenden Möwen in der Luft und Blick auf das blaugrüne Meer, das sich unten in weisser Gischt bricht. Der Park war selbst jetzt noch eine Blütenpracht mit den von Rilke geliebten Rosen und Dahlien in allen erdenklichen Farben. Roter Wein kletterte an alten Mauern hinauf, auf denen Steinamphoren standen, weisse lebensgrosse Marmorstatue schauen vom Meer weg zum Betrachter – geht es noch romantischer? Und immer wieder der Blick auf das endlose Wasser. Hier wäre ich gern in einer Vollmondnacht im Juni! Es muss unvergleichlich schön sein, wenn es selbst an einem Novembertag mit Nieselregen so viel Atmosphäre transportiert.
Obwohl ausser uns doch einige Besucher da waren, nahm mich das Innere des Schlosses richtig gefangen. Es gibt ja alte Burgen, die fast kahl präsentiert werden. Duino ist komplett möbliert, inklusive Teppichen und Gardinen, mit wunderschönen Stücken, die den Geist einer anderen Epoche widerspiegeln. Vielleicht ist alles so gut und liebevoll erhalten, weil das Schloss im Privatbesitz ist? Die alten Spiegel, die oft benutzten Sessel liessen erahnen, wie es 1912 hier war – ich glaube, deshalb hat mich der Ort so bezaubert. Und wenn ich einen Satz lese wie „1922 wurden im Schloss elektrische Leitungen verlegt“ (weiss nicht, ob die Jahreszahl stimmt), läuft meine Fantasie auf Hochtouren, wie das vorher wohl war… Wenn ich auf der kleinen Terrasse stehe und ein laminierter Computerausdruck behauptet, dass Rilke hier die Elegien geschrieben habe, spüre ich nichts von ihm. Aber wenn ich auf knarzendem, polierten Parkett durch die altmodischen Salons gehe, ist er da.
Was den Besuch für mich auch sehr gelungen machte, war die umfangreiche Instrumentenausstellung der Orpheon Foundation. Wundervolle, sehr alte und wertvolle Violen da gamba und Instrumente der Geigenfamilie waren sehr ansprechend präsentiert, indem sie einfach ohne weitere Sicherheitsvorkehrungen in die Wohnräume integriert wurden. Das heisst: kein Alarm, kein Glaskasten, einfach eine alte italienische Gambe neben einem Sessel, die einen direkt einlud, sie in die Hand zu nehmen und zu spielen. Diese Unmittelbarkeit, die ich noch nirgends, in keiner Instrumentenausstellung so erlebt habe, trug auch zu dem bewohnten Eindruck von Duino bei und stellte eine Verbindung zu einer noch früheren Zeit her. Wieviele Finger haben das Griffbrett dieser Gambe von 1550 schon berührt? Die meisten sind längst zu Staub zerfallen, und die Gambe steht hier vor uns, spielbar und wunderschön wie vor Jahrhunderten. In solchen Momenten wird mir meine Endlichkeit immer sehr bewusst.
Ich muss mich sehr beherrschen, nicht Dutzende von Gambenfotos hier hochzuladen, aber Duino soll Rilke vorbehalten sein. Ich hatte ein schmales Insel-Bändchen aus der Bibliothek meines Vaters dabei, das ich am Vorabend im Hotel gelesen habe (und an ihn gedacht habe. Wie gut hätte ihm Duino gefallen! Es ist zu schade, dass er nicht die Reiselust seiner Kinder hatte!): „Erinnerungen an Rainer Maria Rilke“ von Marie von Thurn und Taxis. Mit einer sehr poetischen Passage aus diesem Werk will ich enden:
„Unvergeßlich bleibt mir ein Abend: Wir saßen im unteren gewölbten Zimmer, von dem eine kleine Treppe hinunter zu den Bastionen führte, die Sonne war gerade untergegangen und das Meer lag in tiefstem Blau; langsam färbte die Dämmerung das Wasser immer dunkler. Da begann der Dichter die beiden Elegien vorzulesen. Und als die Nacht hereingebrochen war, hörten wir das unbeschreibliche Gedicht, in dem man das Rauschen des Sturmes, den Hauch der Nacht und den Atem der Unendlichkeit zu spüren vermeint, jenes
„Uraltes Wehn vom
Meer…“
Niemand von uns wagte zu sprechen, schweigend und unbeweglich saßen wir noch lange in der wachsenden Dunkelheit.“