Letzten Herbst habe ich den Klassenabend einer lieben Kollegin begleitet, und beim Verabschieden steckte sie mir einen Umschlag zu. Ich hatte eine nette Dankeskarte erwartet und war ganz erstaunt, als ich Belohnung in einer anderen und viel prosaischeren, aber nichtsdestotrotz nicht unwillkommenen Art fand: Kohle! Und zwar genau so viel, wie zwei der besten Karten fürs Münchner Konzert des Emerson – Quartett kosten würden! Ich hatte tagelang damit geliebäugelt, und jetzt waren die Würfel gefallen. Ich hatte mich um Streicher gekümmert, und dafür würden sich andere Streicher um meine Seele kümmern – und was für welche. Gleich am nächsten Morgen rief ich, noch im Bademantel, bei der Konzertagentur an und bestellte zwei Karten in der zweiten Reihe Mitte, direkt vor dem Quartett. (So was hatte ich noch nie gemacht. Macht ziemlich Spass, das auszusprechen!) Die gute Fee setzte uns wirklich brettlbreit vor die Notenständer – wir hatten zwei Spieler rechts, zwei links von uns und den sagenhaftesten, absolut optimalen Höreindruck. Möglicherweise waren akustische Gründe ausschlaggebend, aber die Musiker sassen auch noch ganz vorn an der Rampe, also höchstens zwei Meter von uns. In einem Klavierabend würde ich nie so einen Platz wählen, weil der Höreindruck zu direkt wäre. Ausserdem wäre es für mich kein Mysterium, was da vor sich geht, ich müsste nicht so genau hingucken. Bei Menschen, die ihren Ton selber produzieren, und noch auf so unglaublich zarte Art, bin ich endlos und nachhaltig fasziniert und muss alles auch genau sehen, nicht nur hören. Und ich will so nah wie möglich dran sein, um das Holz selber schwingen zu spüren.
Es ist ein Luxus, den man sich selten im Leben gönnt, aber ich bin so froh, dass wir es hier gemacht hatten: diese physische Nähe trug viel dazu bei, dass es eines der berührendesten und ergreifendsten Konzerte meines Lebens wurde. Es war schwere Kost – zwei späte Beethoven – Quartette, op. 132 und op. 130 mit der Grossen Fuge als Finale (von Beethovens Sekretär wurde op. 130 nicht zu Unrecht als das „Monstrum der Quartett – Musik“ bezeichnet). Der Gatte meinte bis zum letzten Moment, sie würden das Programm noch ein bisschen umstellen und ändern und eventuell was leichter Hörbares druntermischen, weil man das dem Publikum kaum zumuten könne, aber sie blieben erwarteterweise tough und puristisch. Gott sei Dank.
Es wurde eine Art Gottesdienst in der dämmrig – opulenten Atmosphäre des Jugendstiltheaters. Die Musen tanzten an den Wänden, die grossen Feuerschalen an den Seiten waren sanft von hinten erleuchtet, die ganze griechische Ausstattung lullte uns ein und hob uns aus dem Alltag. Und ich war vom ersten Ton an gebannt. Wahrscheinlich war es nicht so, aber gefühlt hielt ich für zwei Stunden den Atem an. Diese Musik ist so grandios, und es war einfach unglaublich, wie kultiviert und innig die vier Herren zusammenspielten. Wie ein Mensch. Und was für einen intensiven Klang sie manchmal selbst ohne Vibrato hinbrachten – das war herzzerschneidender als jeder zu üppig wabernde Ton.
Bei aller Schönheit, Harmonie und Transzendenz war es partienweise auch ein wirklich schmerzhafter Abend. Warum tut man sich so was an? Kollektiv?! Hab mich mal wieder gefragt, welchen dionysischen Hintergrund solche Kulturveranstaltungen eigentlich haben, und die mythologische Dekoration grade dieses Theaters legt diese Frage nahe. Warum kommt man ordentlich angezogen und mit Omas Perlen um den Hals mit lauter Gleichgesinnten zusammen, in einer stark von Ritualen geprägten Umgebung, und lässt sich von ähnlich ordentlich gekleideten Individuen so komplett demontieren und bis ins Mark erschüttern? Lässt sich reduzieren auf das kümmerliche Häuflein sterblicher Mensch, das wir alle sind, obwohl wir äusserlich so gefasst wirken? Und gleichzeitig auf eine Art das Selbst verlieren, wie man es nur im Zustand höherer Erkenntnis tun kann? Und kein Mensch spricht ein Wort dabei, stundenlang!! Der Gipfel der – mir fällt jetzt kein anderes Wort ein, obwohl es etwas zu harsch ist – Folter war dann, dass sie nach der Grossen Fuge einen schlichten Bach – Choral als Zugabe spielten, passenderweise „Vor Deinen Thron tret ich hiermit.“ Wen sie bisher noch nicht geknackt hatten, der war spätestens jetzt fällig.
Ich war selten so erschüttert und durcheinandergerüttelt nach einem Konzert. Glücklicherweise, denn all zu oft würde man das nicht aushalten. Es war wirklich so eklatant, dass ich dachte: der Tag, an dem auf Konzertkarten Warnhinweise gedruckt werden, wird in Zeiten von „Die DVD startet möglicherweise von vorn“ oder „In Augsburg Hbf werden zwei Zugteile vereinigt. Es kann zu einer Erschütterung kommen.“ nicht mehr fern sein.
Mein Vorschlag für einen Beethoven – Abend mit den Emersons wäre: „Sie werden mit Ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Dies kann mit Schmerzen verbunden sein. Möglicherweise werden Sie jedoch einen Blick auf die ewige Wahrheit erlangen, in die Sie nach Ihrem Ableben eingehen. Sollten Sie bereit sein für solche Visionen, kann der Abend für Sie auch mit einem positiven Ausblick enden. Bitte vermeiden Sie es in der ersten Viertelstunde nach dem Konzert, ein Fahrzeug zu führen oder Maschinen zu bedienen.“
(Fotos: muenchenmusik, Alan Dornak)