Kürzlich las ich zum ersten Mal Anne Morrow Lindberghs „Muscheln in meiner Hand“ – und bin jetzt schon sicher, dass es nicht das letzte Mal war. Und wie bei so manchen Büchern oder Klavierstücken, von denen man theoretisch weiss, dass sie existieren, mit denen man sich aber noch nie näher beschäftigt hat, frage ich mich: warum erst jetzt? Wieso habe ich so lange auf dieses Vergnügen verzichtet?
Es ist aber ein Vergnügen der besonderen Art. Kein Buch, das zur schnellen Lektüre einlädt, ganz im Gegenteil. Das schmale Bändchen hat mich über viele Nachmittage und Abende begleitet und ich habe viele Abschnitte mehr als einmal gelesen, auf mich wirken lassen, mich gefragt, was das für mein eigenes Leben bedeutet (oder inbrünstig gedacht: ja, ganz genau, und wie schön und treffend ausgedrückt – wenn ich diese Beobachtung schon selber gemacht haben sollte.). Was mich am meisten erstaunt, ist die Zeitlosigkeit ihrer Beobachtungen. Geschrieben 1955, spricht es mich jetzt genau so an wie Generationen von Frauen vor mir. Und auch wenn man manchmal schmunzeln möchte, wenn die Rede auf die „moderne Frau“ kommt – ich glaube fast, sie konnte hellsehen (und modern war sie, oder? Als Pilotin?). Oder hat einfach sehr klarsichtig begriffen, dass es Bereiche gibt, die immer anstrengend und kräftezehrend sein werden im Leben einer Frau. Die Mehrfachbelastung durch Familie und Beruf war damals genau so ein Thema wie heute; das Bedürfnis, irgendwo eine Stunde oder einige Minuten am Tag und Raum für sich ganz allein herauszuschinden, war ihr genau so wichtig wie es uns heute ist. Und mir gefällt auch, wie sie als nicht mehr ganz junge Mutter (von sechs Kindern!) über die verschiedenen Abschnitte eines Frauen- und Familienlebens spricht – viel zu schnell ist die Zeit des ständig gefordert-Seins und Eingebettetseins in eine grosse Familie vorbei und man überlegt, wie man mit dem leeren Haus und plötzlich ganz viel freier Zeit für sich allein zurecht kommt. Das ist es auch, was mich sicher sein lässt, dass mich dieses Buch immer ansprechen wird, zu allen Lebensaltern. Und was es so wunderbar universell verschenkbar macht: für die überlastete Freundin mit kleinen Kindern, für die mit Eheproblemen, für die zu plötzlich allein gelassene, oder für die, die sich nach Alleinsein sehnt… Und ihre Vorschläge, wie man wieder sein Zentrum findet, sich nicht zerrissen fühlt, klingen auch absolut aktuell:
„In der letzten Generation haben wir materiell viel gewonnen, aber seelisch sind wir, glaube ich, ärmer geworden, ohne es zu wissen. Früher besassen die Frauen in ihrem Dasein mehr zentrierende Kräfte, Quellen, aus denen sie bewusst oder unbewusst gespeist wurden. Allein die Tatsache ihrer weitgehenden häuslichen Abgeschlossenheit gab ihnen das notwendige Alleinsein. Viele ihrer Aufgaben trugen dazu bei, dass sie sich innerlich sammeln musste. Sie hatten mehr schöpferische Aufgaben zu verrichten. Nichts speist die Mitte so sehr wie schöpferische Arbeit, auch wenn es bescheidene Tätigkeiten sind wie Nähen oder Kochen. Brotbacken, Weben, Einmachen, Kinder unterrichten und ihnen vorsingen, muss viel kraftspendender gewesen sein als den Familienchauffeur zu machen.“
Das könnte doch direkt so auch heute in einer Frauenzeitschrift stehen. Oder in einem der vielen Blogs, die sich mit einem sinnvolleren Leben beschäftigen – und führt uns mal wieder die Überflüssigkeit von vielem, was gesagt oder geschrieben wird, vor Augen (dieses Geschreibsel hier nicht ausgenommen!!). Und genau das ist doch das Wesen eines Klassikers, oder? Dass etwas auf geniale und treffende Weise so ausgedrückt wird, dass es auf Jahrzehnte oder Jahrhunderte Gültigkeit hat. Diese kleine, schmale Bändchen ersetzt regaleweise Selbsthilferatgeber – Minimalisten, aufgemerkt, hier wäre ein Ansatz zum Bücherreduzieren…
Ich freue mich, endlich, so spät im Leben, auf diese kleine Meisterwerk gestossen zu sein. Die hübsche gebundene Piper-Ausgabe lag wochenlang auf meinem Nachtkästchen, und immer steht eine kleine Vase mit den unermüdlich blühenden und zart duftenden weissen Kletterrosen daneben. Allein der Anblick des schön gestalteten Bändchens mit den Muscheln und dem Meerespanorama drauf lässt mich zur Ruhe kommen. Und – jetzt schliesst sich ein Kreis – die Rosen haben seltsamerweise eine Verbindung zu ihr… Diese Sorte, „Madame Alfred Carrière“, habe ich gepflanzt, nachdem ich in einem Gartenbuch gesehen habe, dass Vita Sackville-West sie schon in ihrem ersten Haus in Long Barn hatte. Sie wucherte märchenschlossartig um ihr Schlafzimmer- und Arbeitszimmerfenster, und ich dachte, zur Anrufung und Besänftigung der Musen kann es nicht schaden, auch so eine Rose hier zu haben. Kurz bevor Vita Sissinghurst kaufte, wurde das erste Baby der Lindberghs entführt und ermordet. Um dem Presserummel zu entgehen, beschlossen sie, nach England umzusiedeln – und mieteten Long Barn von Vita, die ohnehin in ihre Schlossruine ziehen wollte. Und so sass Anne Morrow-Lindbergh möglicherweise in dem selben rosenumrankten Arbeitszimmer und wurde vom gleichen zarten Duft umweht wie ich, wenn ich abends noch in ihrem Büchlein schmökere. Das alles hab ich grade beim Googeln erfahren, auf der Suche nach einem Foto für diesen Artikel. Gibt es solche Zufälle?!
(Die ersten beiden Bilder: Yale University Library)
Liebe Martina,
ich habe „Muscheln in meiner Hand“ vor vielen, vielen Jahren gelesen. Nachdem der Minimalismus nicht zu unseren bevorzugten Bestrebungen zählt habe ich mir damals noch weitere Anne Morrow Lindbergh Bücher gekauft. Es ist die Veröffentlichung von Tagebüchern und Briefen, die ich aber nur auszugsweise gelesen habe. Ich war von Anfang an von dieser Frau begeistert. Ganz besonders hat mir aber die Biografie von Dorothy Herrmann „Mit den Wolken will ich ziehen“ Das Leben der Anne Morrow Lindbergh gefallen.
Ich werde mich jetzt gleich mit den Büchern in den Garten begeben und ihre Betrachtungen auf mich wirken lassen.
Viele Grüße
Rosmarie
Liebe Rosmarie,
da kennen wir uns so lange und haben noch nie über diese Autorin geredet! Bei Euch beiden bin ich immer wieder erstaunt, wie viel Ihr „heimlich“ wisst und kennt…
Die Biographie kommt auf meine Leseliste, vielen Dank für den Tip!
Liebe Grüsse und viele schöne Lesestunden im schattigen Garten, Martina