Vitas Vitalität war legendär. Deshalb habe ich länger überlegt, ob die Überschrift, der Beginn eines Gedichts von ihr, nicht einen falschen ersten Eindruck vermittelt. „My life was rich“, auch ein Gedichtzitat von ihr, wäre passender – aber so prosaisch kann das ja jeder sagen! Das andere Zitat, der Anfang von „Sissinghurst“, zeigt eine Seite von ihr, die Virginia Woolf in „Orlando“ aufgegriffen hat. Ihr Leben lang hat Vita Sackville-West darunter gelitten, dass sie als Frau das geliebte elterliche Schloss nicht erben konnte, das über 400 Jahre im Familienbesitz gewesen war. 1930 fand sie die Ruine von Sissinghurst. Ihre entsetzten Söhne konnten nach einem Rundgang durch den heruntergekommenen Garten nicht fassen, dass sie in diese Mauerreste ziehen sollten, aber für Vita wurde es der Ort, an dem sie ihren Seelenfrieden fand und in den folgenden Jahren einen der berühmtesten Gärten Englands schaffen sollte.
Seltsamerweise habe ich Vita Sackville-West bis vor ein paar Monaten nur am Rand wahrgenommen. Ich wusste, dass sie die Freundin und Geliebte von Virginia Woolf und die Inspiration zu ihrem zauberhaften Roman „Orlando“ war. Obwohl ich sonst so neugierig bin und gerne das Umfeld eines Buchs oder Musikstückes bis in die letzte Ecke beleuchte, habe ich diese Tatsache einfach als gegeben hingenommen und Vita Sackville-West kurzerhand in der Schublade „noch eine exzentrische englische Aristokratin“ abgelegt. Was mir dadurch alles entgangen ist!
Seit wir den Garten haben und ich auf der Suche nach Gartenbüchern immer wieder über ihren Namen gestolpert bin, bin ich auf Umwegen auf ihr eigenes schriftstellerisches Schaffen aufmerksam geworden, von dem ich gar keine Ahnung hatte. Mir war nicht bewusst, dass sie eine unglaublich produktive und geistreiche Autorin war, deren Bücher im Gegensatz zu denen von Virginia Woolf in kürzester Zeit Bestseller waren. Ihre Gesellschaftsromane oder Reisebeschreibungen sind niveauvolle Unterhaltung und mit so einem netten, feinen Humor geschrieben, dass ich mich ständig dabei ertappe, schon wieder zu lächeln. Ich kenne keinen anderen Autor, bei dem es mir so geht! Ich denke, das ist auch ihr grosses Verdienst, auch in ihren Gartenkolumnen: diese Fähigkeit, so zu schreiben, dass sich tausende Unbekannte persönlich angesprochen fühlen, allein auf ihrem Sofa sitzen und lächeln und denken: „ja, ganz genau…“. Natürlich ist sie nicht die grosse, zeitlose Künstlerin wie Virginia Woolf. Es klingt blasphemisch, diese schönen Romane und Gedichte, die mich so wunderbar unterhalten, nicht als Meisterwerke zu bezeichnen. Sie ist nicht so modern und konsequent auf der Suche nach neuen Wegen wie ihre Zeitgenossen in den Dreissiger Jahren, was ihr durchaus bewusst war. Aber so war sie anscheinend auch in ihrer Gartengestaltung und Einrichtung ihrer Häuser: lieber bewährte alte Stücke mit Geschichte, lieber üppige alte Rosen als zu viel Neues. Sehr sympathisch eigentlich.
Seit ich angefangen habe, mir schöne antiquarische Ausgaben zu gönnen, ist Vita Sackville-West noch mal interessanter geworden. Dadurch, dass sie nie die grosse literarische Berühmtheit wurde, aber doch sehr beliebt war, ist es erstaunlich leicht, an Erstausgaben ihrer Bücher zu kommen. Ich hätte nie erwartet, ihren ersten Roman „Heritage“ von 1919 überhaupt zu finden – aber es war gar kein Problem. Eigentlich unglaublich, wenn man das zierliche kleine Buch in der Hand hält und sich vorstellt, wie jung sie damals noch war. Im Literaturzirkel kamen wir kürzlich nach der etwas blassen Lektüre einer jungen Autorin im Spass überein, dass wir niemand mehr lesen, der jünger ist als wir. Dieses Buch wäre anders! Es ist voll von Leben und Leidenschaft, und ich habe mich mehr als einmal gefragt, wie eine 26jährige so schreiben kann. Ein unglaublicher Erstlingsroman. Manchmal denke ich, dass die Menschen damals generell früher erwachsen werden mussten und nicht so lange behütet wurden. Davon abgesehen, dass sie 1918 grade vier Jahre Krieg miterlebt hatte, hatte sie mit ihrem Mann, der Diplomat war, am Anfang ihrer Ehe in Konstantinopel gewohnt, in England drei Söhne geboren, wobei der zweite nach einer viel zu lang ausgetragenen Schwangerschaft tot zur Welt kam, und eine leidenschaftliche Affäre mit einer anderen Frau gelebt, die ihre Ehe auf eine harte Probe stellte. Wohlgemerkt alles, bevor sie 26 war. Heutzutage wohnen Leute in dem Alter noch zuhause, kriechen gegen Mittag aus dem Bett und grübeln, ob sie den Abgabetermin ihrer Zulassungsarbeit noch mal verlängern können… Wann sie noch Zeit zum Schreiben gefunden hatte, ist mir rätselhaft. „Heritage“, das abwechselnd im ländlichen Kent und an exotischeren südlichen Schauplätzen spielt, war für mich ein reines Lesevergnügen. Schon hier ist der Dualismus, den sie in sich spürte und der sich durch ihr ganzes schriftstellerisches Schaffen ziehen sollte, ein wichtiges Motiv: der Kontrast zwischen dem englischen Erbe ihres Vaters und dem spanischen Blut ihrer Mutter, ihre sanfte und ihre wilde, ihre weibliche und männliche Seite. Und: es wird ein Garten angelegt mit englischen Samen im völlig anderen Klima von Ephesus. Ich denke, hier spielen ihre Erfahrungen mit ihrem eigenen ersten Garten in Konstantinopel mit herein. Jetzt warten ihre bekannteren Romane auf mich (in wunderschönen Ausgaben der Hogarth Press, die ich auf meinem Schreibtisch stehen habe und dauernd anschauen muss!).
Vita Sackville-West sah sich selber immer mehr als Dichterin als als Romanautorin. Daher war ich gespannt auf die gesammelten Gedichte, die ich mehr der Vollständigkeit halber bestellt habe. Ich hatte keine grossen Erwartungen, eher die Befürchtung, ob ich überhaupt was verstehe – ich habe manchmal Probleme mit Gedichten und verstehe selbst auf Deutsch nur Bahnhof. Aber – die Gedichte sind die grosse Entdeckung für mich! Von ihren Zeitgenossen wurde ihr oft vorgeworfen, sie seien zu konventionell und traditionell, und sie sagte selbst frustriert über sich: „I am a damned outmoded poet.“ . Das mag sein, aber das kommt mir gerade entgegen und macht sie so lesbar und verständlich für mich. Mir gefällt ihre Melodie und der Rhythmus unglaublich. Ihr wunderschönes Gedicht über Sissinghurst könnte ich immer wieder lesen, und „Full Moon“ ist das netteste, fantastischste Mondgedicht, das ich kenne.
„The Land“, ihr 2500-Zeilen-Gedicht über die Natur im Wechsel der Jahreszeiten, ist in dem Band auch enthalten. Ich fand die Länge ziemlich abschreckend und dachte mir, bei aller Liebe, das muss dann doch nicht sein. Seit Wochen liegt der Gedichtband auf meinem Nachttisch, und da ich ihn jeden Morgen zur Hand nehme, ist es dann doch passiert: aus Neugier schlug ich das Endlos-Gedicht irgendwo auf und fand einen unglaublich schönen Abschnitt über eine Wiese voll Schachbrettblumen. Da war’s passiert. Seither lese ich „The Land“ in homöopathischen Dosen und mit mehr Vergnügen, als ich erwartet hatte. Erst vor ein paar Tagen las ich einen Brief von Virginia Woolf, in dem sie ihr sinngemäss schreibt: „“The Land“ ist wie ein gehaltvoller Kuchen, von dem ich mir immer wieder ein Stückchen abschneide.“ Wie wahr, und wie nett und seltsam, dass es ihr auch so ging. Bevor ich hier auf ähnliche epische Längen komme, schliesse ich für heute – es wird eine Fortsetzung geben!