Selbst Bekannte, die ganz andere Interessen und Gesprächsthemen haben, können es sich in letzter Zeit nicht verkneifen, Reizwörter wie „Griechenland“ und „Eurokrise“ in normalerweise zivilisierte Unterhaltungen einfliessen zu lassen. Ganz abgesehen von den Berufspessimisten und notorischen Unkern, die offensichtlich Vergnügen daran haben, Schreckensszenarien zu entwerfen. Einer hat tatsächlich sein gesamtes Vermögen von der Bank abgehoben, weil es bald kein Bargeld mehr geben wird, und einen Lebensmittelvorrat für einen Monat angelegt, weil er wegen Griechenland eine drohende Knappheit fürchtet. Wie anstrengend!
Ich teile solche Befürchtungen nicht, habe mir aber so meine Gedanken gemacht über die bleibenden Werte, in die man jetzt doch investieren soll. Bzw. eine willkommmene Rechtfertigung gesucht, um mir einen lange gehegten Traum zu erfüllen: hemmungslos Erstausgaben geliebter alter Bücher zu kaufen. Oder zumindest möglichst zeitnah erschienene, sollten die Erstausgaben zu unverschämt teuer sein. Glücklicherweise träume ich nicht von völlig unerreichbaren, seltenen Schätzen. Mit England in der Zeit zwischen 1920 und 1930 bewege ich mich noch in einem vernünftigen und erreichbaren Rahmen, und da Virginia Woolf und Vita Sackville-West damals sehr beliebte Autorinnen waren, gibt es tatsächlich viele alten Exemplare ihrer Werke. Und so sind um meinen Geburtstag herum viele ersehnte Päckchen eingetrudelt – immer wieder aus London, aber auch aus Irland und einmal Südafrika… Mit einem Königinnenkopf auf der grossen ausgedruckten „Briefmarke“ und zum Teil wunderhübschen Visitenkarten von Buchhändlern, die ich so viel lieber in echt als im Netz besuchen würde. Ich hebe die Adressen auf und stelle mir vor, wie ich sie eines Tages alle abklappere und tatsächlich eine alte hölzerne Schwelle überschreite, während oben eine kleine Ladenklingel scheppert und mich der staubige Geruch alter Bücher empfängt.
Und die Bücher? Sind mir so unglaublich wertvoll. Wertvoller und geliebter als jeder Goldbarren. Seit sie in meinem Zimmer stehen und in ihrer lang ersehnten, so sehr geschätzen Präsenz den ganzen Raum verändern, frage ich mich, wie ich je ohne sie leben konnte. Ich bilde mir ein, sie leuchten im Dunkeln – ein Strahlen aus einer anderen vergangenen Zeit. Für mich als grosse Virginia Woolf – Anhängerin ist es unbeschreiblich, Bücher zu haben, die in der „Hogarth Press“, dem Verlag, den sie mit ihrem Mann hatte, herausgegeben wurden. Natürlich habe ich nicht die allerersten, wahrscheinlich ganz seltenene Exemplare der Werke, die sie beide wirklich noch von Hand gesetzt und Blatt für Blatt mit der Handpresse gedruckt haben. Und das Papier ist auch nicht aus dem Lager, das sie aus Platzgründen anfangs zuhause stapelten und wo sie tatsächlich, auch aus Platzgründen, auf den Knien geschrieben hat. Und wahrscheinlich hat Virginia Woolf nicht persönlich eines der Bücher in braunes Papier verpackt und mit einem Band verschnürt – was sie so oft an einem Tag getan hat, dass sie sich in einem Brief über den Zeitaufwand und die Farbe an ihren Fingern beklagt.
Aber – die Bücher stammen aus der Zeit, in der sie lebte und atmete und Tee trank. Durch London spazierte und möglicherweise unauffällig in einem Buchladen schaute, ob ihre Bücher im Regal stehen (machen Autoren das?). Möglicherweise ruhten ihre Augen auf einem der Bücher, die jetzt bei mir sind?! Na, jetzt wird’s zu romantisch! Was mich auch so fasziniert und seltsam berührt, ist, dass auf dem Titelblatt ihre Adresse steht, die man von so vielen Briefen kennt. Der Verlag war immer in dem Haus, in dem sie gewohnt haben, anfangs in Richmond, dann in London. Wenn ich ein Buch aufschlage und lese „Published by Leonard and Virginia Woolf at the Hogarth Press, 52 Tavistock Square, London“, fühle ich mich einfach ganz seltsam. Und selig, dass ich es in der Hand halten darf.
Ein grosser Schatz ist für mich die Ausgabe von „Orlando“, im Oktober 1928 erschienen. Es war etwas schwierig, meinem Mann zu erklären, warum ich ein Buch kaufe, das ich schon habe, da ich immer diejenige bin, die predigt, dass wir weniger Bücher haben sollten… Und ich weiss ehrlich gesagt nicht, was ich mit meiner Taschenbuchausgabe machen soll, die ich 1992 in Atlanta gekauft und mindestens fünf Mal gelesen habe. So habe ich das Buch kennengelernt, und es hat mich so treu begleitet. (Wäh, immer diese Sentimentalität beim Ausmisten!) Aber jetzt, dieses wundervolle gebundene Buch – es ist einfach was ganz anderes. Man will kein Taschenbuch mehr in die Hand nehmen. Es kam mitten an einem Unterrichtsnachmittag und ich musste mich sehr beherrschen, bis zum Abend mit dem Auspacken zu warten. Dann legte ich mich aufs Sofa, hungrig, durstig, aber bald in einer völlig anderen Welt, als ich andächtig das Buch öffnete, die wunderbare Titelseite (mit der Adresse!) las, das dicke, geriffelte Papier unter meinen Fingern spürte, die Fotos, die in den ersten Ausgaben reproduziert waren, betrachtete. Und dann, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte, fing ich an zu lesen, die letzten 70 Seiten oder so. In dem Buch, das ich so gut kenne und so oft gelesen habe, und obwohl ich gar nicht lesen wollte. Aber es war absolut magisch, in dieser alten Ausgabe mit dem schönen Gewicht zu lesen. Ich konnte nicht anders, und ich konnte nicht aufhören. Es war echtes langsames Genusslesen, und ich habe manche feinen Nuancen jetzt erst wahrgenommen und mich gefreut, was es nicht alles im Leben zu entdecken gibt. Wie sich die Bücher, die wir lesen, mit uns über die Jahre verändern und wachsen. Wie sich das, was wir allgemein in dieser Lebenszeit, seit wir das Buch kennen, erlebt und gelernt haben, in unserem Verstehen widerspiegelt und unerwartete neue Facetten ans Licht bringt. Was für ein unglaubliches Vergnügen so ein fein geschriebender Roman sein kann.
Der Nachteil mit diesen nicht feuerfesten bleibenden Werten ist, dass man seltsamerweise Angst bekommt um seine Schätze. Sonst bin ich ja sehr sorglos, was materiellen Besitz betrifft. Im Fall des hypothetischen Feuers im Haus war immer der geliebte Kater das wichtigste Rettungsobjekt. Jetzt würde ich schnell raufrennen und vom Schreibtisch und Nachttisch gewisse Bücher retten. Absolut.