…in progess…

DSCF5600Genau so plötzlich wie die Morgenluft auf einmal kühler wurde, hat sich ein anderes eindeutiges Anzeichen für den Herbst eingeschlichen, so schnell und immer wieder unerwartet, dass diese Phase auch schon fast vorbei ist: der Garten fängt an, golden zu leuchten. Selbst bei bedecktem Himmel, selbst in der Dämmerung: über allem liegt ein sanftes, warmes gelb-goldenes Leuchten. Es ist, als ob man in eine hohe, von innen und aussen strahlende Kathedrale eintritt. Das Strahlen hüllt einen auf unglaublich zarte Weise ein. Wie eine ganz leichte, aber wärmende Decke, die kaum spürbar über den Schultern liegt. Wie Wärme von innen nach einem heissen Tee mit Milch. Wie die Wärme von ganz innen, wenn man sich aufgehoben und geliebt fühlt. Das goldene Leuchten dringt in jeden Winkel des Gartens – selbst die schattigeren Stellen der Terrasse haben ihr eigenes Leuchten durch den gelbgefärbten Wein. Es ist allumfassend, wie dichter gelber Nebel, und gleichzeitig so persönlich und nah, dass ich nicht sicher bin, ob irgend jemand ausser mir es wahrnimmt. Und woher es kommt? Wir haben viele Laubbäume, darunter einen ausufernden, jetzt gelben Ahorn, und der Nachbar hat einen majestätischen Tulpenbaum, der grade strahlend gelb ist und seine Reflexe über den Gartenzaun wirft. Die Eichen hinterm Zaun werden kupferfarben, die Birke auch golden – es ist eine Symphonie in Gelb, die ihresgleichen sucht.

Ich liebe es, in dieser Atmosphäre des langsamen Vergehens und Absterbens, die gleichzeitig maximale Schönheit ausstrahlt, die letzten Gartenarbeiten zu verrichten. Jetzt sind es nur noch langsame, vorsichtige Arbeiten. Im Sommer ist ja oft der radikale Kahlschlag notwendig, auch in dem Wissen, dass alles ohnehin wieder nachwächst, und schneller, als einem lieb ist. Die Arbeit ist schweisstreibend, die Hitze tut ein Übriges – es wäre albern, solche Aktivitäten nicht in passender Arbeitskleidung zu erledigen. Jetzt kann ich getrost in meinen Alltagsklamotten in den Garten gehen, denn auch das Tempo ist anders: es gibt nur noch wenig zu tun. Ich schaue, wer noch Zeit braucht zum sich ganz Einziehen, ganz zur Ruhe zu begeben. Ich will das Vergehen nicht beschleunigen, indem ich es mit der Schere beende – auch Welken braucht seine Zeit. Und das unglaubliche Farb – Crescendo der Bäume zeigt mir: wir sind auf dem Höhepunkt des Vergehens, aber es dauert noch ein paar Tage, bis das Ende wirklich da ist. Und die Zeit möchte ich ganz bewusst erleben und den mehrjährigen Pflanzen auch geben.

P1090306Wie wir alle eingebunden sind in die Zeit… Ob wir es wollen oder nicht. Ich denke immer wieder über dieses seltsame Phänomen nach. Manchmal scheint sie sich rückwärts oder spiralförmig zu bewegen. Vor ein paar Tagen hab ich bei der Vorverkaufsstelle von München Ticket persönlich mehrere Karten abgeholt für Veranstaltungen fürs Literaturfest. Ich will mit verschiedenen Freundinnen gehen, also war es ein kleiner Stapel. Und der Herr an der Kasse fragte, ob oane vo uns no an Studentenausweis hat. Das ist mir echt lang nicht mehr passiert, und man ist erst mal perplex. Wir können alle nicht mehr nachweisen, dass wir noch studieren – aber irgendwie tun wir es doch, oder? Wenn wir das Programm des Literaturfests wälzen, die Neuerscheinungen verfolgen, davor ganz viel drüber reden, danach noch mehr, und jeder Besuch der Bücherschau einen Stapel an Neuanschaffungen nach sich zieht. Oder meine Notenbestellungen zum Schuljahresbeginn, für mich und für meine Schüler: das hat auf jeden Fall immer was von Schulanfang, mehr wissen wollen, weiterkommen – aber die Aufbruchsstimmung und der Wissensdurst ist nicht nur auf den Herbst beschränkt, sondern eigentlich ständiger Begleiter in meinem Leben. Und dem meiner Bekannten. Insofern sind wir noch Studenten und auch oft pleite wegen der Buchkäufe – aber wir kriegen auch immer mehr graue Haare und verdienen doch so viel, dass wir unseren Beitrag zur Kulturgesellschaft in Form von nicht ermässigten Eintritt leisten dürfen. An so was hab ich im herbstlichen, verwelkenden Garten gedacht – diese seltsame Gleichzeitigkeit von sich jung und neugierig fühlen, aber langsam definitiv auf den Herbst zugehen. Wahrscheinlich wird man noch mit 90 behaupten, im Herz eine Studentin zu sein.

P1090339Und unser ständiges eigenes Fortschreiten in der Zeit, gegen das man gar nichts tun kann ausser es zu akzeptieren – daran hatte ich auch eine nette Erinnerung letzte Woche, als ein ernsthafter Schüler vor seinem Bach beteuerte, dass er wirklich jeden Tag dran gearbeitet hat, vor allem an der Artikulation links, dass es aber trotzdem noch nicht so klingt wie er es sich vorstellt. „Sie hören jetzt ein work in progress.“ Wie nett, dass er mich vorwarnte und sich immerhin ein Gewissen drum machte… Aber alles ist ständig ein work in progress. Mein Spielen, das Spielen meiner Schüler… Egal, was man tut – Musik machen, schreiben, malen, Geigenbauen, leben – es geht immer um den nächsten Schritt, um die nächst mögliche Verbesserung. Die Bäume müssen gelb werden und kahl, um nächstes Jahr neue Blätter bekommen zu können. Nichts ist statisch oder grossartig unter unserer Kontrolle. Da kann man sich nur entspannt einordnen in den grossen Ablauf der Dinge und sich daran freuen, dass man grade jetzt Teil von allem sein darf.

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