Und dann gibt es die anderen, die die ganze Sache differenzierter sehen. Die ruhig bleiben und eine Diskussion nicht als Anlass nehmen, nur lauthals ihre Sicht der Dinge loszuwerden, ohne den anderen zuzuhören. Und es sind erstaunlicherweise nicht die studierten, lebenserfahrenen Akademiker, die ich kürzlich im Fast – Nahkampf erleben durfte, sondern – ein sechzehnjähriges Mädchen, das mich durch ein paar ruhige Bemerkungen wieder an das Gute im Menschen glauben lässt. Sie ist eine Schülerin von mir, die ich neuerdings nach der Klavierstunde abends heimfahre, weil so spät kein Bus von Erding mehr in ihr Dorf fährt und ich auf dem Heimweg ohnehin dort durch fahre. Wir reden vom Einsteigen bis ich sie an ihrer Bushaltestelle rauslasse ohne eine einzige Pause – aber kaum übers Klavierspielen. Übers Reisen, Lesen, Sprachenlernen, und jetzt zufälligerweise über Flüchtlinge. Aber nicht, weil uns was akut im Alltag daran stört, sondern weil sie erzählte, dass ein gewisser dicker fetter Geschichtsatlas ihre Lieblingslektüre ist und sie wahnsinnig gern die alten Landkarten anschaut. Ich auch, übrigens. Dass überhaupt Geschichte ihr grösstes Hobby ist und sie immer wieder staunt, wie flexibel und ständig im Wandel zum Beispiel Grenzen waren. Und dass es immer Bewegungen und Völkerwanderungen wie jetzt gegeben hat. Dass sich immer die Menschen irgendwo die Köpfe eingeschlagen haben und andere deshalb auf der Flucht waren. Und das Traurige daran: dass wir nie daraus zu lernen scheinen. Aber so ist es, und wir leben zufällig jetzt und beobachten alles hautnah. Müssen aber auch anerkennen, dass wir in kurzer Zeit ohnehin nichts dran ändern können. Sollten eher versuchen, damit zu leben.
Wow. Ich dachte immer, sie ist eine tolle Klavierspielerin – aber da sitzt offensichtlich die geborene Diplomatin! Sie hat in wenigen Sätzen die Lage und ihre verschiedenen Aspekte so klar skizziert, auch, was wir tun könnten und wo die Grenzen sind, dass ich dachte: die Kleine hätten wir an unserer Tafel gebraucht. Ich glaub, vor ihrer Unschuld und Klarheit hätten selbst die völlig erhitzten Streithähne Respekt gehabt. Und was das Tollste war: ich habe keine Ahnung, wo sie persönlich steht. Sie ist sachlich und neutral geblieben, hat eine Fähigkeit zur Abstraktion bewiesen, die den anderen, die im Gegensatz zu ihr längst ihr Abitur und noch mehr an Ausbildung haben, völlig abgegangen ist.
Und das würde ich mir für (hoffentlich nicht auftretende!) zukünftige Auseinandersetzungen wünschen: eine differenzierte Sicht der Dinge und einen Abschied von Pauschalurteilen. Nicht alle Moslems sind radikal, so wie nicht alle Christen Katholiken sind oder überhaupt in die Kirche gehen. Nicht alle Flüchtlinge kommen nur, um sich „in die soziale Hängematte zu legen“. Ich bestreite nicht, dass es beide Seiten gibt, aber man sollte nicht alle über einen Kamm scheren. Das würden wir doch auch nicht wollen, dass so über unsere Kultur geurteilt wird?
Es ist nicht so, dass ich Diskussionen scheue. Im Gegenteil: wenn meine Schüler mir widersprechen, bin ich direkt glücklich. Einmal, weil ich sehe, dass sie nicht nur körperlich anwesend sind, und dann, weil dadurch immer etwas in Gang und Leben in die Bude kommt. Manchmal kitzele und provoziere ich sie schon auch mit Absicht – aber wirklich mit pädagogischer Absicht, nicht um sie noch rasender zu machen, wie es kürzlich privat der Fall war. Und alles in gesittetem Rahmen. Es geht um die Sache und wir attackieren uns nicht persönlich. Und akzeptieren die Meinung des anderen. Wenn es überzeugend ist, habe ich kein Problem damit, wenn jemand ein Stück völlig anders spielt, als ich es würde. Das macht das Leben ja erst schön. Was bei unserer Auseinandersetzung am Kaffeetisch so zermürbend und frustrierend war, war, dass jeder der beiden unbedingt wollte, dass der andere seine Sicht übernimmt. Weil sie die einzig Wahre ist. Warum ist das so?!
Wir sollten aufhören, uns die Köpfe darüber einzuschlagen, warum sich andere Leute die Köpfe einschlagen. Oder vielleicht nur noch zu gegebener Zeit, im passenden Rahmen, oder zusammen mit Menschen, deren Job es ist, an der Situation eventuell etwas zu ändern. Privat kommen wir da nicht weiter und setzen höchstens Freundschaften und Sympathien aufs Spiel.