Der Blog beisst sich selber in den Schwanz und wird zum Selbstzweck, wenn ich darin über ein Buch schreibe, das ich geschenkt bekommen habe, weil ich im Blog über was Bestimmtes geschrieben habe… aber es muss sein, das Buch ist zu schön. Und ich freue mich immer noch so sehr darüber. Unerwartete Geschenke, und dann noch so spezielle und schöne, sind schon was Besonderes. Und wie oft beschert einem das Leben tatsächlich so was?
Weil ich doch kürzlich über Berufung und echten Lebensinshalt geschrieben habe, hat mir eine bloglesende Freundin ein kiloschweres Päckchen in Geschenkpapier überreicht – wegen des Artikels. Aufgrund ihrer Anmerkungen dachte ich beim Auspacken, es sei ein riesiges leeres Tagebuch, in das ich jetzt nach Herzenslust kritzeln könnte. Aber nein – ich hielt einen grossformatigen, wunderschön aufgemachten Bildband in Händen: „Pilgrimage“ von Annie Leibowitz. Ich hatte keine Ahnung, dass dieses Buch existiert, und es ist so schön und stimmungsvoll, dass ich darüber schreiben muss.
Annie Leibowitz unternahm ohne Auftrag und einfach aus eigenem Vergnügen jahrelang „Pilgerfahrten“ zu Wohnorten von Künstlern oder Persönlichkeiten, die ihr am Herzen liegen – Menschen, die für eine Idee oder ihre Leidenschaft lebten. Ihre Art, anscheinend unbedeutende oder nichtssagende Details von diesen Plätzen in Fotos festzuhalten, spricht mich sehr an. Die Bilder sind langsam, ruhig und unglaublich stimmungsvoll. Das Wohnzimmer von Emily Dickinsons Bruder zum Beispiel leuchtet in einem warmen Halbdunkel. Ihr karges Schlafzimmerchen, in dem sie auch schrieb, ist hell und spartanisch. Genau so viel Suggestivkraft hat der leere Schreibtisch von Virginia Woolf mit seiner völlig abgewetzten, tintenbefleckten Oberfläche, gesehen von aussen durch das Fenster ihres Schreibhäuschens. Oder was mich besonders berührt hat: Lincolns Zylinder, den er bei seiner Ermordung trug – an ihm ist immer noch das Trauerband für seinen drei Jahre vorher gestorbenen Sohn. Das sagt viel aus in einer Zeit, in der sterbende Kinder an der Tagesordnung waren.
Das Buch ist voll von berührenden, sehr speziellen Blicken auf das, was von uns bleibt. Das, was uns am Herzen liegt: Wohnräume, Besitztümer, Eigenheiten. Und aus einem so persönlichen Blickwinkel betrachtet, dass die Bilder einen nicht gleich loslassen. Auch wegen ihrer eigentümlichen Melancholie – nichts spricht so sehr von Vergänglichkeit, als wenn man sieht, was für fragile, kleine Erinnerungen letztlich von einem bleiben werden. Trotzdem ist genau das auch tröstlich: diese Art, eine Person festzuhalten, regt einen unwillkürlich an zu überlegen, wie man die Persönlichkeit von verstorbenden Verwandten in nur einem, aber ganz aussagekräftigen Foto festhalten würde. Vielleicht mit einem einzigen Gegenstand, den man für immer mit ihnen verbindet, der ihren Charakter perfekt erklärt. Oder mit einem Ort, an dem sie völlig in ihrem Element waren. Das Erstaunliche: mir fallen spontan und problemlos Bilder ein, mit denen ich jemand, der sie nicht gekannt hätte, umfassend erklären könnte, wer sie waren.
„Pilgrimage“ ist ein sanfter, langsamer Bildband, der einen vom ersten Augenblick an bannt. Nichts für den Sofatisch, vielleicht, denn man will ja keine sprachlosen und geistig abwesenden Gäste, aber perfekt fürs Abtauchen am ganz persönlichen Lieblingsleseplatz.