Kürzlich habe ich mir in Salzburg eine lange hellblaue Strickjacke mit Zopfmuster gekauft und greife ständig danach – morgens zum Zeitunglesen über dem Schlafanzug, zum Unterrichten, abends auf dem Sofa… Es liegt nicht nur daran, dass sie kuschelig ist, sondern dass ich die klare, helle Farbe so mag. Die sich zur Zeit auch draussen spiegelt in dieser herrlich glitzernden Schneelandschaft, wenn der blaue Himmel drüber strahlt. Es ist klirrend kalt, aber ich gehe trotzdem jeden Tag spazieren. Irgendwie brauche ich nach dem Winter diese hellen Farben und das viele Licht, mit dem wir grade verwöhnt werden. Und wie es aussieht, sind sogar die lilanen Zeiten im Schreibzimmer vorbei – ich habe genug von dunkelroten Pullis und lila Wänden, möchte Helligkeit und Eindeutigkeit um mich. War tatsächlich im Baumarkt und denke über eine Farbe namens Mandelcreme nach…
Und, wie so oft, schlägt sich dieser Wunsch nach einem neuen Aufbruch und dem Abstreifen von alten Häuten auch musikalisch nieder. Gemäss meinem neuen Jahresmotto „Weiterkommen“ überfiel mich die Lust auf eine (vermeintlich) ganz neue Beethovensonate. Jedes Alter, jedes neue Stadium im Leben braucht seine eigene Beethovensonate, oder? Und wenn es nur das Neuerwachen der Lebensgeister nach einem Winter ist… Es gibt für jede Situation die geeignete Sonate. Aus Respekt vor seinem grossartigen Werk habe ich bisher nur die frühen und mittleren Sonaten von Beethoven gespielt. Also aufgeführt. Der wenig schicke Zustand meines zweiten Bands der Sonaten – ausgebleicht und viel heller als der erste, zerfleddert und bald am Auseinanderfallen – beweist aber, dass ich mich übemässig wesentlich mehr bei den späteren Sonaten aufgehalten habe. Dass ich sie noch niemand vorgespielt habe, zeigt vielleicht einen gewissen Optimismus, was meine Lebenserwartung betrifft. Ich hab mich eingehend mit op. 109 und 110 beschäftigt, würde sie auch wahnsinnig gern sofort spielen, denke aber gleichzeitig, dass es ihnen gut tut, noch ein paar Jahr(zehnt)e zu schmoren.
Jetzt dachte ich, was Sportliches und Bewegungsfreudiges muss her, in einer hellen Tonart, klar, gutgelaunt und energiegeladen: die Waldsteinsonate. Sie fasziniert mich schon immer, weil sie alles in sich hat, was Beethoven auszeichnet: ein unglaublich edles zweites Thema, ein wildes und drängendes erstes, fast sportliche Passagen übers gesamte Klavier, die einfach nur Spass machen und in denen man sich richtig austoben kann – was will man mehr? Als ich anfing zu spielen, wurde ich allerdings schnell stutzig. Alles lief zu gut, fühlte sich an wie Repertoire, das nur aufgewärmt werden muss. Aber ich bildete mir ein, dass ich die Sonate noch nie wirklich studiert hätte, nur so gespielt. Als selbst der berüchtigte Triller im letzten Satz gelang, kam es mir immer seltsamer vor. Warum konnte ich sie? Ich hatte sie garantiert nie im Konzert gehört. Habe auch keine Aufnahme. Ich grübelte, ob einer meiner Mitstudenten sie vielleicht ständig gespielt hatte – mir fiel auch keiner ein. Aber meine Noten waren absolut unbeschrieben, kein einziger Fingersatz oder sonst ein Zeichen, dass ich mich schon mal damit beschäftigt hätte. Sehr seltsam.
Aber es war ein wunderbares Üben, gleich problemlos in die Vollen. Was habe ich mich im Herbst gequält mit der Chopin-Ballade, weil ich dachte, es muss sein und ich sollte es machen! Ich hab mir solche Gewalt angetan, und es ist nie gelaufen. Während ich mich munter durch den Beethoven pflüge, kommt mir ein Bild: der Chopin hat sich angefühlt, als ob ich zögernd im ungeeigneten Bikini an einem undurchsichtigen Waldsee stehe und vor lauter Seerosengeschling nicht mal einen Fuss ins Wasser bringe. Und auch gar nicht weiss, wo und wie ich rein könnte. Der Beethoven ist ein leeres, hellblaues, riesiges Schwimmbecken, das ich ganz für mich habe und in das ich mich im Sportbadeanzug mit einem Kopfsprung stürze. Und ungehindert und so lange ich will loslege. (Und mich mal wieder frage: warum nicht gleich? Warum sich vorher verbiegen?)
Abends überfiel ich den Gatten schon im Flur und fragte ihn, ob er mich schon mal die Waldsteinsonate habe spielen hören. Während er seine Jacke aufhängte, überlegte er kurz und sagte: „Hundertprozentig. Ist lange her, aber die hast du geübt.“ (Und auf ihn ist absolut Verlass in der Hinsicht. Er ist der Mensch für Opuszahlen und Köchelverzeichnisse. Ich spiel das ganze Zeug, kann mir aber nie merken, wie es genau heisst (oder ob ich es schon gespielt habe, offensichtlich). Er schon.) Ich konnte es nicht fassen. Ich fürchte, ich bin in dem senilen Stadium angekommen, in dem man Schillers „Glocke“ noch auswendig kann, aber keine Ahnung hat, wann oder bei wem man sie gelernt hat. Oder was es zum Mittagessen gab.
„Übrigens hast du den Haustürschlüssel wieder von aussen stecken lassen.“
(Das ist kein Witz, und genau so wahr wie der Rest von diesem Blog!)
Fazit: ich sollte die luziden Moment, die mir noch bleiben, nutzen. Meinen Kopf regelmässig anstrengen, meinem Körper die Bewegungen drinnen und draussen gönnen, nach denen er sich sehnt, überhaupt das Leben in vollen Zügen geniessen, solange das noch ohne Zivi möglich ist…
Liebe Martina,
als inzwischen sehr eifrige Leserin deines Blogs möchte ich nun auch mal meinen „Senf“ hier dazu geben.
Ich kenne solche Momente in meiner Arbeit. Da quält man sich monatelang mit einem Bildthema… das doch so reizvoll aber auch überaus schwierig scheint… Dann bleibt das ganze irgendwie liegen… Andere Bilder entstehen, das Leben geht weiter… auch die Lebenserfahrungen nehmen zu und irgendwie gerät dieses Thema beinahe in Vergessenheit. Doch es ist immer noch da. Wartet vielleicht, wie der Samen in der Erde, bis die richtige (Jahres)zeit gekommen ist. Und wenn man dann dieses Thema oft nach Monaten oder Jahren wieder aufgreift, läuft auf einmal alles beinahe mühelos aus der Hand und auf die Leinwand … oder wie bei dir, in die Klaviertasten.
Das sind künstlerische Prozesse, die – so bin ich inzwischen überzeugt, einfach einen Reifeprozess brauchen… oder eben die Lebenserfahrung, die man nicht durch „üben“ und „tun“ herbei führen kann. Und wenn ein Stück, ein Bild, ein Text oder sonst ein kreativer Prozess nicht zur eigenen Lebenserfahrung passen, dann passt es eben nicht, dann kann man sich biegen und zwingen und drücken, wie man will, es wird immer nur hölzernes dabei raus kommen.
Was übrigens das Schlüssel-aussen-an-der-Haustür-stecken-lassen betrifft, das ist noch zu topen… Ich wohne zum Glück in einer sehr ruhigen Gegend… dennoch… ich hab’s schon geschafft, im Hochsommer – spätabends, wenn ich gewohnheitsmässig meine Haustür immer weit offen stehen lasse um Licht und Luft herein zu lassen, geschafft, zu vergessen, dass die Tür noch offen ist, als ich ins Bett ging… Am nächsten Morgen war der Schreck gross, als ich feststellte, die ganze Nacht bei weit geöffneter Tür geschlafen zu haben.
Aber niemand hat mich davon getragen oder meinen Schlaf gestört. Das sind dann wieder die Vorteile vom Leben in der Provinz.
Grüsse, Sigrid
Liebe Sigrid,
danke für den langen und gehaltvollen Kommentar! Ist spannend, zu hören, dass jemand aus einer anderen Kunstrichtung das auch kennt: dass es den richtigen Zeitpunkt für alles gibt und es manchmal einfach noch zu früh ist.
Weiterhin viele inspirierte und „richtige“ Stunden! Martina