In den Herbstferien beschliesse ich, mein Schreibzimmer neu zu streichen. Macken und Abriebspuren an den Wänden gehören längst übermalt, und als ich in den Baumarkt fahre, ist mir klar, dass ich einen Kompromiss zur bestehenden Farbe brauche. Die gleiche werde ich nicht mehr finden, und das ganze Zimmer will ich nicht streichen. Mit Dunkelrot oder einem hellen Beige im Sinn fahre ich los – mit einem Eimerchen Pflaumenlila komme ich wieder. Es hat mich magisch angezogen. Eigentlich ist es eine wunderschöne Farbe, aber nach dem ersten Pinselstrich bin ich bestürzt und schockiert und denke nur: was mache ich da?! Noch kann ich aufhören!
Aber dann fühle ich mich so eingehüllt und gewärmt von der Farbe, dass ich in den freien Tagen mehr vom Zimmer streiche, als ich vorhatte. Es wird viel dunkler, als ich denke. Aber ein Abend in der Oper in der opulenten Farbenpracht der „Ballets russes“ und ein Besuch in der Stuckvilla bestärken mich: es darf ruhig auch mal dämmrig sein, üppig und kostbar. Kleine goldene byzantinische Kacheln verkneife ich mir (noch…), aber jetzt dürfen goldene Bilderrahmen her. Und natürlich andere Vorhänge.
Dieses verrückte Lila hat eine unerwartete Eigendynamik. Eines Abends setze ich mich an den Schreibtisch, zünde eine Kerze vor meiner in dunkler Farbfülle strahlenden Wand an, öffne den Laptop und schreibe wie eine Wilde. Fünf Tage lang hält dieser Zustand an, bis der Computer fast raucht. Ich kenne mich selbst nicht wieder, hatte gar keine Ahnung, dass diese Geschichten raus müssen, sehe am unablässigen Strom, dass genau jetzt die Zeit zum Schreiben ist. Und ich kann eindeutig sagen: daran ist das Lila schuld.
Spontane und für alle sichtbare Veränderungen wie ein neuer Haarschnitt oder eine neue Wandfarbe bedeuten oft, dass man etwas Altes zu Ende gebracht hat und Lust auf etwas ganz Neues hat. Bei mir gibt es keine konkreten Ereignisse, aber im Gewirr des immer verflochtener werdenden Lebens war es anscheinend nötig, dass ich durchs Schreiben einiges ordne und anerkenne. Akzeptiere und mich nicht mehr aufrege über Dinge, die ich für verkehrt oder veränderungswürdig gehalten habe.
Zum Beispiel das Durchschlafen. Ich schlafe seit Jahren nicht mehr durch – gefühlte 350 Tage im Jahr bin ich nachts hellwach, und es regt mich auf (und hindert mich am Wiedereinschlafen.) Vor einiger Zeit habe ich beschlossen: dann schlafe ich eben in Etappen. Und mein Schlafdefizit hole ich irgendwann nach, spätestens im Sarg. Seit ich mir gestatte, Licht zu machen und wach zu sein, ist alles einfacher. Entweder hole ich mir ein Glas Rotwein und den tragbaren CD-Spieler mit Rubinstein ins Bett, oder ich lese die richtig komplizierten Sachen. Zu keiner anderen Zeit scheint mein Geist so wach zu sein wie zwischen drei und fünf morgens, also nutze ich diese Zeit.
Oder komplexe, traurige oder aufwühlende Gefühle, die eine Konstante im Leben zu werden scheinen: ich kämpfe nicht mehr dagegen an. Ich verlange nicht mehr von mir, dass ich immer gutgelaunt, unbeschwert und sonnig bin, denn das bin ich nicht und kann es nicht sein, ohne mir Gewalt anzutun. Es gibt einfach Trauer in meinem Leben oder sonstige tiefsitzenden komplizierten Gefühle anderen Menschen gegenüber, mit denen man irgendwie klarkommen muss. Indem ich ihnen ins Gesicht schaue und sie anerkenne, nehme ich ihnen viel von ihrem Stachel. Und kann tatsächlich ein Stück unbeschwerter werden, auch wenn die Wolken nie ganz weggehen. Es ist leichter, diese Regungen ins Leben zu integrieren, als gegen sie anzukämpfen. Tatsächlich kann man sie wie alte Bekannte begrüssen, wenn sie wieder ihren strubbeligen, scheusslichen Kopf heben. Und sie sind einfach Teil von mir. Machen mich zu einem gewissen Grad auch aus. Vielleicht würde ich mich gar nicht mehr wiedererkennen ohne sie? Vielleicht gehört es zum Prozess des immer noch Erwachsenwerdens dazu?
Das Gute daran, seinen Geistern in die Augen zu schauen, ist auch, dass man versteht: ohne Dornen gibt es keine Schönheit. Manchmal geht es einem nicht so toll, aber wenn dann mal alles wirklich unbeschwert und schön ist, kann man das Leben ganz anders geniessen, weil man weiss: das ist grade die Kehrseite – was für ein Glück, dass ich da sein darf!
Was für ein Glück, dass ich ein lila Zimmer haben darf…
Liebe Martina,
wenn Du wieder einmal in London bist, schau bei Sir John Soane vorbei, ein unglaublich voll gestelltes Haus, dunkel, ein genialer Schreibplatz, total heimelig und unheimlich.
Viele Grüße
Wolfgang