Mit diesen Worten bitte ich meine Schüler immer, mich an den Flügel zu lassen, um ihnen eine Stelle kurz vorzuspielen. Dafür, dass sich eigentlich immer das erwünschte „Aha!“-Erlebnis einstellt, mache ich es viel zu selten. Eine sinnliche Wahrnehmung, die sich ein paar Zentimeter vor ihren Augen abspielt, hilft den Schülern viel schneller zum Verständnis als die langatmigsten Erklärungen. Irgendwie hatte ich immer den Anspruch, ohne viel Demonstrieren neben dem Klavier zu sitzen und alles mit Worten zu erklären. Warum, weiss ich gar nicht genau. Vielleicht haben wir im Methodik-Unterricht gehört, dass das die höherstehende Art ist, zu unterrichten. Vielleicht, weil meine eigenen Lehrer relativ wenig vorgemacht haben (obwohl wir meistens luxuriöserweise zwei Flügel zur Verfügung hatten) – bis auf meine letzte Professorin, bei der ich nach dem Diplom die Fortbildungsklasse besuchte. Sie spielte viel und wunderschön vor, und jedes Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich wusste: ja, genau so ist es gemeint.
So viele Erfahrungen kommen inzwischen aus zweiter Hand: wir sehen fern und bilden uns ein, etwas erlebt zu haben – dabei sitzen wir passiv und allein zuhause, während wir anderen beim vermeintlichen Leben zusehen. Wir schreiben Mails und denken, sie ersetzen die echte Erfahrung, eine liebe Stimme mit allen ihren Nuancen und Atemgeräuschen am Telephon zu hören – dabei schaffen wir es nur nicht, in unserem übervollen Alltag Raum für solche Begegnungen zu finden. Wir lesen Blogs und kommentieren auf ihnen, oft über Kontinente hinweg, und bilden uns ein, nicht allein zu sein und genügend soziale Kontakte zu haben – auch wieder, weil sich das besser und zu unorthodoxen Zeiten in den Tagesplan integrieren lässt als eine echte Begegnung mit einer echten Umarmung. Und die Kinder: statt wie wir Schule oder Mama-Papa-Kind zu spielen oder draussen unterwegs zu sein, werden sie vor irgendwelchen elektronischen Geräten geparkt, weil das Zeitfenster zwischen Schule, Hausaufgaben, Ergotherapie und Fussball keine echten Kontakte mehr zulässt. Ihre Spiele sind eindimensionale Bildschirmspiele, die der Intelligenz nicht unbedingt zuträglich sind. Dabei sehnen sich gerade Kinder nach Greifbarem, Echten, Lebendigen, im echten Leben und in der Musik. Zu seinem Leidwesen wollen viele meiner kleineren Schüler unser Katertier anfassen – anschauen reicht für Kinder nicht. Und am Klavier ist es ähnlich: manche wollen nicht nur hören, sondern ihre kleine Hand auf meine legen, während ich spiele. Am Anfang fand ich das ganz seltsam – die Idee kam von einer Schülerin – , aber manche Kinder brauchen anscheinend diese auf vielen Ebenen spürbare Art des Erkennens.
Wenn ich zuhause unterrichte, vermeide ich das Vorspielen oft, weil es ein kompliziertes Stühlerücken etc. beinhaltet. Aber das sollte mich nicht mehr abhalten – die vielen positiven Erfahrungen der letzten Wochen sprechen für sich. Der üblichste Kommentar ist immer ein geschocktes „Was, so schnell?“. Häufig höre ich auch „Ich wusste gar nicht, dass das so schön klingen kann“. (Oder mein liebstes: „Was, Sie können das auch spielen?“) Auf jeden Fall spüre ich immer ein unmittelbares Verständnis und den Drang, es sofort selber auszuprobieren. Wir müssen uns auch immer wieder klarmachen: wo hören unsere Schüler überhaupt noch Livemusik? Wann stehen sie neben einem lebendigen Instrument aus Holz, das schwingt und bebt? Wenige meiner Schülereltern spielen selber, und viele meiner Schüler gehen nicht in Klavierabende oder ähnliches. Woher sollen sie also die Idee haben? Es ist so leicht für mich, ihnen dieses Idealbild anschaulich zu demonstrieren. Also in Zukunft: weniger Worte, mehr zum Anfassen. (Und mich macht es ja auch glücklich, zwischendurch die Tasten zu spüren!)