Kürzlich rief ganz unerwartet eine verschollen geglaubte Freundin aus dem hohen Norden an. Nach jahrelanger Funkstille, während der wir jede mit unserem eigenen Leben zu beschäftigt waren, sagte sie sich spontan für einen Besuch zum Abendessen an – zu spontan, um weitere Pläne zu schmieden oder ihr die Gegend hier richtig zu zeigen. Und da unser Garten bei ihrem Eintreffen auch schon im Dämmerlicht seine Abendgewänder anlegte und sie nur noch die Umrisse der kahlen Eichen gegen das letzte Tageslicht erkennen sollte, ist es Zeit für ein paar Fotos…
Bei der üblichen Suche im Netz wird Wasserburg normalerweise von seiner strahlenden, südlichen Bilderbuchseite gezeigt. Solche Tage, an denen die kunterbunten Fassaden vor einem klaren blauen Himmel strahlen, mag ich schon auch. Und wenn sich an heissen Sommerabenden das Leben in der Altstadt komplett nach draussen verlagert, mediterrane Kübelpflanzen vor den Häusern stehen und die alten Mauern die Hitze abstrahlen, fühle ich mich immer noch wie im Urlaub.
Doch „mein“ Wasserburg hat noch viel mehr Facetten als nur das plakativ und vordergründig Schöne. „Mein“ Wasserburg erschliesst sich auch nicht bei einem kurzen Rundgang – es verlangt schon etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Und auf einmal merkt man, dass dieser Ort viel weniger leicht fassbar und beschreibbar ist, als man an einem sonnigen Tag denken könnte. Dank des vielen Wassers und der alten Bausubstanz gibt es Tage, an denen die Stadt wie in einem Märchen aus sanften Nebelschwaden auftaucht und man sich fragt, in welchem Jahrhundert man lebt. Ich liebe solche Nebelmorgen – egal, wie früh oder kühl, da zieht es mich unweigerlich nach draussen. Die feuchte Luft lässt meine Haut und Haare aufleben. Am Wasser fange ich die wunderschönen Momente in meinem Herzen ein, wenn alle Umrisse weich verschwimmen, um mich unendlich viele verschiedene Grüntöne schimmern und die ganze Welt wie ein Traum erscheint. Ebenfalls, wenn ich mich der Stadt nähere und der gotische Kirchturm oder die Zinnen der Burg aus den sanften grauen Schwaden auftauchen. Oder manche Gassen der Stadt, früh am Morgen, wenn noch keine Autos unterwegs sind – alles ist zeitlos schön und die Konturen zwischen Gegenwart und Vergangenheit werden unschärfer. (Bis der erste Vespafahrer mit Anzug und Krawatte um die Ecke knattert – das ist auch so ein netter Trend zur Zeit in Wasserburg und ein Tribut an eine nicht für Autos konzipierte alte Stadt).
Oder unser Garten im orange-goldenen Abendlicht an einem kühlen frühen Frühlingsabend, wenn die Eichen noch kahl sind und ich vom Klavier aus sehe, wie sich vor dem leuchtenden Himmel ein majestätischer weisser Fischreiher am Teich hinter dem Haus langsam in die Luft erhebt und in weiten Kreisen immer höher schwingt. Da muss ich mich kurz fragen, ob ich träume… Oder in Sommernächten, wenn ich vom Käuzchen, das andauernd ruft, aus dem Schlaf geholt werde und dann merke, dass die Schafe hinter dem Haus auch unruhig werden, und ich mich frage: ist es ein Fuchs? Eine ganz grosse Eule? Oder ein ganz anderes Wesen aus der Märchenwelt, was wir noch nie gesehen haben? Und schon gleite ich in den nächsten Traum…
So wie die Grenzen zwischen Himmel und Fluss im Nebel unklar werden, verschwimmen hier Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und vergangene Zeiten. Wasserburg ist eine Stadt der Zwischentöne. Und seit ich hier wohne, sehe ich auch mehr Facetten und Möglichkeiten an und in mir: ich bin nicht nur das, was man sieht. Die ganze Schönheit um mich herum beeinflusst mich – ich muss das verarbeiten und auf anderem Weg wieder rauslassen. Ich MUSS üben. Ich MUSS schreiben. (Erstaunlicherweise. Wie komme ich dazu, und wo kommt es her??) Der breite, ruhige Fluss, der an keinem Tag derselbe ist, erinnert mich immer wieder daran, dass das Leben und die Gedanken in Bewegung bleiben müssen. Nichts stagniert hier, keine kreativen Blockaden machen sich bemerkbar – alles fliesst mühelos und von selber. Es gab Orte in meinem Leben, an denen es sich gut leben liess. Es gab andere, an denen sich die eigene Existenz mehr wie „überleben“ anfühlte. Aber das wirklich leben, das erfüllte, intensive, täglich beglückende leben – das kenne ich nur hier in der alten gotischen Stadt am grünen Fluss.
Liebe Freundin, wenn Du nächstes Mal kommst, muss es länger sein! Unser Leben hat sich so so arg verändert, seit wir uns vor 25 Jahren oder so kennengelernt haben. Was waren wir idealistisch! Wir wollten kreativ und kultiviert leben, immer viel lesen, viel in die Oper und Konzerte gehen, Anteil nehmen am kreativen Leben anderer, selber unseren Beitrag leisten… Auf unsere Art, in unseren kleinen Nischen tun wir das ja auch – beide haben wir Berufe gewählt, in denen wir das sogar zum Broterwerb tun dürfen. Doch inzwischen ist unser Alltag so anders und so fordernd, dass wir froh sind, wenn die Wäsche gewaschen und der Kühlschrank aufgefüllt ist und wir zu einer anständigen Zeit ins Bett fallen dürfen. Ich fürchte, das ist auch ganz normal in unserem Alter… Aber man braucht Begegnungen und Konfrontationen mit der eigenen Vergangenheit, so wie bei Deinem Besuch, um sich immer wieder daran zu erinnern, was einem wichtig ist im Leben, und man braucht wunderschöne, inspirierende Ort und Momente um sich, um die Flamme am Leben zu halten.