Ausreden: Kunst und Künstler

Als mir kürzlich bewusst wurde, dass ich ohne triftigen Grund und quasi aus Versehen fast 20 Jahre gewartet habe,  um ein bestimmtes Stück einzustudieren, fing ich an zu überlegen, was uns manchmal an der Ausübung unserer Kunst hindert. Wenn ich mein Klavierspielen, mein Schreiben, mein Kochen und Backen, kurz meine ganzen kreativen Betätigungen ganz hochgestochen  als „Kunst“ bezeichnen darf, bemerke ich den grundlegenden Unterschied, dass die Musik einfach mit akustischen Emissionen verbunden ist, die von anderen als störend empfunden werden könnten. Daher sind die Zeiten, in denen man ernsthaft am Klavier und nicht am E-Piano üben kann eingeschränkt. Was wieder Raum für Ausreden geben könnte. Seit ich entdeckt habe, wie gern ich schreibe, merke ich, wie produktiv ich in den ganz frühen Morgenstunden bin. Wie schön wäre es, wenn ich diese Energie auch fürs Klavierspielen nutzen könnte! Manchmal habe ich abends auch noch mal ein kreatives Hoch, wenn ich im Advent am Marmortisch im Wintergarten endlos und selbstvergessen Plätzchen zusammensetze und verziere. Doch normalerweise bin ich immer an feste Übezeiten gebunden und muss meinen Tag entsprechend ausrichten. Wenn die Muse dann grade Pause hat, kann alles etwas mühsam werden – aber ich habe gelernt damit umzugehen.

Das dürfte aber die einzige äusserliche Ausrede sein, warum man etwas vor sich herschiebt. Alles andere ist selbstgemacht. Es geht schon mit dem Selbstverständnis los, dass ich mich schwertue, meinen Lebensinhalt als „Kunst“ zu bezeichnen. Aber was soll es sonst sein? Es ist definitiv etwas, das über den Alltag hinausgeht und im besten Fall Jahrhunderte überdauert. Kunst bringt Schönheit, Trost und Sinn in unser Leben. Gerade weil immer wieder daran gespart wird und überlegt wird, wie viel davon in der allgemeinen Bildung nötig und bezahlbar ist, sollten wir uns selbstbewusst dafür einsetzen. Einfach mit dem Argument, wie die Welt denn ohne Kunst aussähe – eine Hochzeit ohne Musik, ein kahles Krankenhaus ohne Bilder an den Wänden, ein stummes Tanzvergnügen. Egal, wie bescheiden unsere Anstrengungen sind, sollten wir uns trauen, sie als „Kunst“ zu bezeichnen und ihnen eine Daseinsberechtigung in unserem Leben zugestehen. Es mag egoistisch erscheinen, sich am Tag eine Stunde ganz für sich allein zu reservieren. Doch wenn man sich bewusst macht, dass es letzlich der geistigen und seelischen Ausgeglichenheit dient und wir dadurch für unsere Umwelt umgänglicher werden, ist die Zeit gut investiert.

Zum Selbstverständnis gehört es auch, das Bild des Künstlers anders zu definieren. Mit einem „richtigen“ Künstler verbindet man schöpferisches Chaos, kreative Anfälle mitten in der Nacht und daraus resultierend wenig bürgerliche Schaffenszeiten, ein unkonventionelles Leben, exzentrisches Verhalten, exzessive Genüsse. Sicher gibt es einige, die wirklich so sind, aber genau so sicher gibt es mehr als genug, die nur so tun, als ob, und alle vermeintlichen Vorteile dieser Sonderstellung mitnehmen wollen. Mein Vorbild eines kreativ Schaffenden sind Thomas Mann und Richard Strauss, die sich Morgen für Morgen in ihrem bürgerlichen Heim an ihren bürgerlichen Schreibtisch gesetzt haben und einfach diszipliniert vier Stunden lang geschrieben haben. Was bei dieser Konsequenz und Zurückgezogenheit entstanden ist, ist atemberaubend. Und auch wenn das, was wir produzieren, im Vergleich zu diesen Grössen höchst bescheiden ist und eigentlich nicht in einem Atemzug mit den beiden genannt werden sollte, spornt es mich an, nicht nur Hausfrau und Lehrerin zu sein, sondern in meiner kleinen Welt auch „Künstlerin“. Und zwar in einem Umfang, in dem ich mich selber wohl fühle. Wenn die Bügelwäsche liegen bliebe, könnte ich nicht mehr entspannt üben. Andererseits kann ich aus dem Kuchenbacken oder Gärtnern auch ein kreatives Ereignis machen, das meine Seele tagelang befriedigt. Und mich wieder zu anderem inspiriert. Ich bin sozusagen eine „undercover“-Künstlerin, und das ist im Moment genau das Richtige: ich kann verschiedene Lebensstile vereinen, mich ausleben und trotzdem genug für meine Umwelt da sein. Wahrscheinlich muss man sich vom „ganz oder gar nicht“- Anspruch verabschieden. Auch wenn man auf diese Art nie die höchsten Höhen erklimmen wird, kann man doch ein sehr reiches und erfülltes Leben führen. Und das ist sicher besser, als die Kunst ganz auszuklammern und unbewusst deshalb frustriert zu sein.

(in einer längeren Version veröffentlicht in „Pianonews“ 6/2012)

3 Gedanken zu „Ausreden: Kunst und Künstler

  1. Liebe Martina,

    ich freue mich sehr das Dir mein kleiner Blog gefällt. Damit Du ein bißchen über mich erfährst: Ich komme aus Oberfranken, lebe aber nun in Baden-Württemberg in einer 108 Jahre alten Bürgervilla, arbeite als Altenpflegerin und bin aber gelernte Bankkauffrau, liebe Altes und Schönes, Blumen und Tiere, Ausflüge in die Umgebung (vor allem Frankreich und die Schweiz). Was Kunst anbelangt, liebe ich vor allem Kunst die ich sehen kann. Das heißt Bilder, Statuen, Ornamente (ich interessiere mich für Architektur und Baustile) – ich bin wohl ein sehr visueller Mensch. Ich mag aber auch schöne Musik und bin eine Leseratte.
    Ich freue mich wenn Du wieder bei mir vorbei schaust und wünsche Dir viel Freude an Deiner Musik,

    Tanja

  2. hallo Martina,

    heute lese ich zum ersten mal bei dir und lasse dir sofort einen Kommentar da. Vor lauter Alltag mit vielen Kindern und mitunter recht viel Sorgen, „erlaube“ ich mir kaum , kreativ zu sein.

    ein herzliches Danke für deine inspirierende Sichtweise.

    ja, es tut einem wohl.

    liebe Grüße
    Sanne

  3. Herzlich willkommen! Manchmal braucht man ja nur 10 Minuten, um Abstand zum Alltag zu gewinnen. Ich wünsch Dir solche kleinen kreativen Nischen! Liebe Grüsse, Martina

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