Letzte Woche erarbeitete ich mit zwei Schülerinnen ein Stück von Daniel Hellbach, „Solitude“. Eins der Mädchen spielte es ordentlich vor – Noten stimmten, Rhythmus stimmte, aber sonst war nicht viel passiert. Ich versuchte, ihr die Stimmung des Stücks besser verständlich zu machen, indem wir uns zusammen eine Filmsequenz überlegten, die den Titel „Einsamkeit“ veranschaulichen sollte. Wir waren uns klar, dass wir in der melancholischen und ruhigen Szene eine Frau sehen, denn einsame Männer gehen joggen oder ins Internet. (Nun ja…) Die Frau steht im Dämmerlicht am Fenster eines leeren Zimmers, der Dauerregen läuft an den Fensterscheiben hinunter – das waren die Ideen der Mädchen, die offenbar viel Spass am Erfinden hatten.
Ich fügte mit dunkler Stimme hinzu: „Die Scheinwerfer eines Autos spiegeln sich im Asphalt der menschenleeren Fahrbahn.“
Loulou juchzte vor Freude: „Super, Frau Sommerer, schilderndes Element!“
„Wie bitte?“
„Wir machen in Deutsch grade Erlebniserzählung, und man braucht immer ein schilderndes Element!“
Jetzt war ein Damm gebrochen und immer skurrilere „schildernde Elemente“ breitete sich vor uns aus, bis ich die Phantasie der Mädchen wieder in geordnetere Bahnen und zurück zum Klavier lenkte. Und als Loulou das Stück jetzt spielte, war es so trübsinnig und hoffnungslos, dass uns anderen ganz kalt wurde. Sie sah vor ihrem inneren Auge die dämmrige Szene in Grautönen und schaffte es auch, uns diese Stimmung zu vermitteln.
Die grosse Frage beim Unterrichten ist ja immer, wie man Musikalität und Ausdruck vermittelt. Oft stecken wir so in Bewegungs- oder Verständnisdetails fest, dass man von einer künstlerisch ausgereiften und wirklich persönlichen Interpretation nur träumen kann. Wobei man so etwas leicht erreichen kann, wenn man hier ein crescendo beachtet, hier sich ein wenig Zeit lässt, hier kurz Luft holt… Doch vielleicht sollten wir im Klavierunterricht auch so technisch vorgehen wie im Deutschunterricht der 6. Klasse? Davon ausgehen, dass ein Stück aus einer Aneinanderreihung von mehreren Elementen besteht? Richtige Töne, richtiger Rhythmus, richtige Lautstärken, Klangfarben, Artikulation, Pedal, Haltung, „schildernde Elemente“? Eigentlich unterrichte und übe ich nicht so. Ich versuche, meinen Schülern zu erklären, wie wichtig es ist, von Anfang an alle dieser Bausteine zu berücksichtigen. Es ist wenig sinnvoll, wie im obigen Beispiel die Stimmung erst am Schluss drüberzugiessen wie Zuckerguss – das ganze Stück sollte davon durchdrungen sein, damit es glaubhaft wirkt. Vielleicht gibt es aber Schüler, die eher analytisch an die Sache herangehen und am Schluss die Aufforderung brauchen, jetzt ein paar farbige Elemente einzubauen. Ich werde es ausprobieren!
Immerhin bin ich froh, eine Schülerin wie Loulou zu haben, die überhaupt in der Lage ist, so viele Gefühle zu zeigen. Und ich bin richtig selig über Schüler, die so etwas selber hören: am selben Tag spielte ich einem Dreizehnjährigen, der neu bei mir ist, vor, wie er eine Stelle von Tschaikowsky auch spielen könnte. Seine Reaktion: „Sie spielen das mit voll viel Gefühl! Wie macht man das??“ Sind das nicht die allerbesten Voraussetzungen?!
deine erlebnisse mit den schülern lassen ja hoffen dass nicht die gesamte jugend verblödend auf ihre handy-displays starrt und dazwischen ihre klassenkameraden mobbt.
jetzt die frage: gibt es eine „schichtung“ bei deinen schülern die die gesellschaftliche herkunft widerspiegelt?
wer schickt seine kinder zum klavierunterricht? nur akademiker? oder eben gerade nicht die akademiker?
Tatsächlich sind die Eltern meiner Schüler hauptsächlich Akademiker, meistens auch promovierte – wie es dem Klischee entspricht. Es ist heute wie vor hundert Jahren so, dass die gebildete Mittelschicht mehr Wert auf eine umfassende Erziehung legt und auch bereit ist, dafür was zu investieren. Dazu muss ich aber sagen, dass ich bei den meisten Kindern das Gefühl habe, sie kommen freiwillig und gern! Ein Klischee, das ich habe: diese Kinder sind irgendwie intelligenter und leistungsbereiter. Es ist ja eine alte Geschichte, dass Akademikerkinder auch eher aufs Gymnasium gehen (in dreizehn Unterrichtsjahren hatte ich eine Hauptschülerin, ganz kurz, und zwei Realschulschüler. Ohne Witz), und ich unterrichte oft die Kinder, die dann mit einem 1,0-Abitur in der Zeitung erscheinen. Mein Leben ist schön, kurz gesagt, aber seit Jahren nagt diese Ungleichheit an mir und ich überlege, wie ich auch andere Kinder zur Musik bringen kann. Denn geeignete gibt es ganz sicher überall. Wenn ich beim Jauch gewinnen würde, würde ich Probestunden für alle anbieten! Jetzt überlege ich, ob ich nächsten Sommer beim Wasserburger Ferienprogramm was auf die Beine stellen soll.
Eine Hemmschwelle beim Klavier ist sicher auch: man braucht genügend Wohnraum, um das Monster aufzustellen, und man muss wesentlich tiefer in die Tasche greifen als bei einer Blockflöte oder Gitarre. Da sieht man eine ganz klare Schichtung, auch bei den Vorspielabenden in der Musikschule. In vielen Familien meiner Schüler ist es in der dritten Generation Brauch, Klavier zu spielen. (Eine Schülerin: „Bei uns spielen alle Klavier!“ Ist einfach so, wird nicht diskutiert.) Manche haben die Instrumente ihrer Grosseltern und manchmal auch die Noten – das find ich total schön! Als ich eine Familie mal besuchte, hing über dem Klavier liebevoll gerahmt das Foto der Oma als junges Mädchen an eben dem Klavier, und sie sah aus wie meine Schülerin. Das gibt mir ein ganz komisches Gefühl im Bauch, dass es doch so was wie ewiges Leben gibt, wenn wir ein kleiner Teil dieser Musiktradition sind.