Wenn meine Schüler und ich Mitte November die Anmeldungen für „Jugend musiziert“ abgeben, liegt der grösste Teil der Arbeit schon hinter uns. Wir haben alle Stücke noch mal mit Stoppuhr kontrolliert, die Angaben sorgfältig ausgefüllt, zusammen mit den Eltern unterschrieben. Der Anmeldebogen sieht so übersichtlich aus! Obwohl er alle Informationen enthält, sagt er so gar nichts über die Musik aus. Es ist immer wieder erstaunlich, wie man so viele Noten, Emotionen und Spiellust in ein flaches, eindimensionales Stück Papier quetschen kann. Und da die fertige Anmeldung einen wichtigen Zwischenstand unserer Vorbereitung bedeutet, lassen wir unsere Augen eine Weile darauf ruhen und überlegen, welches Stück am meisten Spass macht, welches eher heikel ist, was für den Anfang am besten wäre… Die paar Minuten Ruhe und Rückblick haben wir uns nach der intensiven Arbeit der letzten Monate verdient! Was in den Wochen bis zum Wettbewerb noch kommt, ist Feinabstimmung und so viele Auftritte wie möglich. Doch den eigentlichen Lernprozess, eben das, was „Jugend musiziert“ für uns so wertvoll macht, haben wir in den letzten Monaten durchlaufen.
Meistens beginnt alles ungefähr ein Jahr vor dem Wettbewerb, indem ich mir geeignete Teilnehmer aussuche. Manche sind schon erfahren in Wettbewerben und werden vielleicht von sich aus an mich herantreten, andere wissen gar nicht, dass es so eine Einrichtung überhaupt gibt. Damit der Wettbewerb nicht nur ein Tummelplatz ehrgeiziger Eltern wird, spreche ich auch gezielt Schüler an, die von sich aus nie auf die Idee kommen würden, bei denen ich aber ahne, dass es ihrer Entwicklung guttun würde. Orientiert an den Anforderungen erarbeiten wir zwei, drei Stücke, die passen würden. Idealerweise werden sie auch schon mal öffentlich vorgespielt und für gut befunden. Zu dem Zeitpunkt habe ich den Wettbewerb noch mit keinem Wort erwähnt! Wenn ich es dann tue, ist die zweite Frage meiner Schüler meistens „und was soll ich da spielen?“ Wird ihnen klar, dass sie ungefähr die Hälfte des Programms schon gut kennen, fällt die Entscheidung, teilzunehmen, viel leichter.
Gleich von Anfang an erkläre ich meinen Schülern, dass sich bei „Jugend musiziert“ sehr, sehr viele Pianisten anmelden und dass in manchen Altersstufen Jungstudenten dabei sind, die auf einem ganz anderen Niveau spielen. Um Enttäuschungen zu vermeiden, ist es wichtig, frühzeitig klar zu stellen, dass nicht eine bestimmte Punktzahl unser Ziel ist, sondern das Mitmachen an sich. Das bedeutet: sich ein interessantes, dem Alter angemessenes Programm zu suchen und zu erarbeiten (wenn sich ein Schüler lerntechnisch gerade in einer Übergangsphase befindet, muss man sorgfältig abwägen, ob es ihm gut tut, seinen Ehrgeiz mit einem anspruchsvolleren Stück zu wecken oder ob er es aushält, monatelang ein eher leichtes Stück schön und gern zu spielen. Ein Lehrer sollte nie aus persönlicher Eitelkeit seinen Schülern ein abgehobenes, zu schweres Programm aufbürden, nur um den Kollegen seine herausragenden Literaturkenntnisse zu beweisen!), die Stücke monatelang liebevoll und mit immer neuem Interesse zu spielen und letzlich auf den im Moment besten erreichbaren Stand zu bringen. Und natürlich bedeutet es in den Wochen vor dem Wettbewerb, das Programm möglichst oft vor anderen zu spielen. Für die Bereitschaft, zusätzliche Stunden am Abend oder Wochenende zu investieren, werden die Schüler damit belohnt, dass sie neue Literatur live kennenlernen und sich vielleicht auftrittstechnisch von den anderen noch etwas abschauen können. Ganz zu schweigen vom Gemeinschaftserlebnis und Zusammengehörigkeitsgefühl, dass sich in der Gruppe entwickeln kann – wir Pianisten sind ja meistens einsame Menschen, die stundenlang allein an ihrem Instrument sitzen, und es kann hilfreich sein und manche Perspektiven zurechtrücken, wenn man feststellt, es gibt noch andere von der Sorte. Und sie haben ähnliche Probleme!
Sind die Schüler und ich uns einig, ist es Zeit für ein ausführliches Gespräch mit den Eltern. Das ist überhaupt immer gut! Viel zu selten kommt man dazu, in entspannter Atmosphäre über die Fortschritte des Kindes zu reden, und jetzt ist ein guter Augenblick, um so einen Termin anzuberaumen. Ich lege meine Haltung zum Wettbewerb noch mal dar und erläutere vor allem, was auf die Eltern zukommt an zusätzlichen Chauffeursdiensten zu Unterrichtsstunden und Vorspielen. Zusammen überlegen wir auch, ob es schulisch für das Kind im Moment möglich ist, so viel Zeit mit einem zusätzlichen Projekt zu verbringen. Die meisten Eltern stimmen einer Teilnahme gern zu, weil sie den grossen Nutzen für die Persönlichkeitsentwicklung sehen. Ich bitte sie aber auch, in ihren Worten dem Kind noch mal zu erklären, dass das Mitmachen im Vordergrund steht, nicht die Weiterleitung zum Landeswettbewerb. Wenn dann doch so ein Ergebnis verkündet wird, ist die Freude so überwältigend, dass ich und die Schüler schnell ein Taschentuch brauchen… Aber das sollte nicht unser Ziel sein – das wäre die Kirsche auf dem Sahnehäubchen!
Ich bin immer wieder erstaunt, was für einen Kick meine Schüler bekommen, wenn sie merken, dass ich an sie glaube und ihnen mehr zutraue als sie sich selbst. Alle haben meine Erwartungen schon jetzt übertroffen, und ich bin einfach glücklich, wenn ich sehe, was für eine solide Übehaltung sie sich mit dem umfangreichen Programm angewöhnt haben. Das ist für uns der eigentliche Gewinn.
Wenn wir jetzt langsam über den Stücken stehen, hoffe ich, dass ich meinen Schülern noch das gewisse Etwas mitgeben kann und hoffe auch, dass sie es sich trotz Aufregung am Wettbewerbstag bewahren können – Phantasie und Persönlichkeit in ihrem Spiel. Wenn ich Jurorin bei „Jugend musiziert“ oder anderen Wettbewerben bin und einen ganzen Tag lang gute bis sehr gute Beiträge bewerten muss, horche ich langsam nur noch auf, wenn wirklich etwas Besonderes passiert. Letztes Jahr habe ich bei 80 Prozent der Vortragenden „mehr Phantasie!“ auf den Bewertungsbogen gekritzelt und das auch in den Beratungsgesprächen verbalisiert. Jetzt sollte ich es bei meinen eigenen Schülern auch beherzigen!