Schon ein paar Tage nach der Rückkehr erinnerte sich mein Mann nicht mehr genau an eine bestimmte Kirchenkuppel in Rom. „Hast du nicht aufgepasst?“, entfährt es mir ehrlich entrüstet. Elf Stunden im Liegewagen und bei Hitze tagelang durch eine Stadt trotten – diese ganzen Opfer bringt man doch nicht zum Vergnügen. An seinem amüsierten Gesichtausdruck sehe ich, dass ich etwas zu weit gegangen bin und die Lehrerin in mir mal eins auf den Deckel braucht. Es ist auch erlaubt, im Urlaub nicht aufzupassen und einfach Italien zu geniessen – trotzdem drohe ich ihm scherzhaft an, dass er nächstes Mal jeden Abend abgefragt wird, damit so was nicht mehr vorkommt.
Ich muss grinsen darüber, dass ich meine Weltverbesserungsabsichten selbst im Urlaub nicht ablegen kann. Es ist auch wirklich noch nicht so weit fortgeschritten, wie es jetzt klingt. Ich kann schon meine Umwelt in Ruhe lassen. Aber an meiner echten Empörung sehe ich, dass Wissen und Wissenserwerb für mich was Heiliges sind. Auch wenn es um völlig zweckfreies und vielleicht sogar zum Leben überflüssiges kunstgeschichtliches Wissen geht: die Kuppel von S.Ivo ist ein Mosaiksteinchen auf dem Weg zum gesamten Bild und darf nicht fehlen. Und auch alles, was wir sonst in dieser unglaublichen Überfülle gesehen haben, muss eingeordnet werden und hilft uns, alles weitere besser zu verstehen. Und egal, ob man sich einem Gemälde, einem Musikstück oder einem Roman aussetzt – jedes bewusste Erleben und Betrachten bringt uns weiter, vervollständigt unser Wissen, lässt uns mehr sehen und verstehen.
Es heisst doch, dass Jugend an die Jugend verschwendet ist. Das Gleiche gilt für Erziehung, finde ich. Wenn ich jetzt noch mal in der (glücklichen!) Lage wäre, meine zum Teil hervorrragenden Gymnasiallehrer von damals zu erleben oder mein Studium noch mal von vorn beginnen dürfte, vor dem Hintergrund dessen, was ich jetzt weiss – wie viel mehr könnte ich da mitnehmen! Aber die Zeit für diese ganz gründliche, umfassende Ausbildung ist vorbei. Jetzt bleibt das Vergnügen, sich zu spezialisieren und in dem weiterzubilden, für das man brennt. Und das sehe ich immer mehr als ein grosses Privileg. Nicht nur, weil ich die Flamme in mir spüre und dem einfach nachgeben kann, sondern auch, weil mir mein Beruf die nötige Freizeit dafür ermöglicht und ich mühelos an Literatur über alles mögliche komme. (Und ich überhaupt in Europa lebe, höchstens ein paar hundert Kilometer weg von den Kunstschätzen, die mich interessieren – aber ich glaube, das darf man nicht sagen, das klingt zu elitär…) Und ich spüre, wie ich immer noch mehr wissen und sehen will, je mehr ich weiss. Weil eben alles so verflochten ist und sich gegenseitig befruchtet und man so spät und langsam erst anfängt, Zusammenhänge zu erkennen.
Letzten Sommer gab es einen wunderschönen Ferienausflug in die Klosterbibliothek Admont. Ich kannte Bilder davon, war aber völlig überrollt von der strahlenden hellen Schönheit dieses Juwels. Die Bibliothek wurde um 1780 gebaut und verpflichtet sich im Bildprogramm und in der ganzen Anlage dem Geist der Aufklärung. Alles ist bewusst licht und hell gehalten, die vorherrschenden Farben in der Ausstattung sind weiss und gold, und selbst die uralten ehrwürdigen Handschriften wurden in weisses Leder gebunden, um sich von den ehemals düsteren und schlecht beleuchteten Höhlen des Wissens abzuheben. Um einen herum ist so viel Pracht, dass die Augen ständig die Regale entlang nach oben und zu den Deckenfresken wandern. Aber die Führerin lenkte unseren Blick auf den Boden aus drei verschiedenen Marmorsorten. Das Muster wirkte aus verschiedenen Blickwinkeln wie Stufen, und wenn man es von weiter weg betrachtete, führten diese „Treppen“ immer zu einem der Regale oder einem bestimmten Buch. Sie ging langsam von Rechteck zu Rechteck, in kleinen Schritten, und erklärte, dass der Erbauer uns daran erinnern will, dass wir Wissen, wie umfangreich auch immer, nur in kleinen Schritten erreichen, und dass es immer mit dem ersten Schritt losgeht, auf den dann alles aufbaut. Ich denke weiter: Wissen muss eingeordnet und geschichtet sein wie hier in den Regalen. Einzelne, voneinander losgelöste Fakten, die willkürlich an der Oberfläche erscheinen, bringen einem nicht viel. Man braucht eine gewisse Systematik und Vernetzung im Kopf, muss einen Kontext herstellen, um einzelne Punkte wiederzufinden und von dort auch weiter sammeln zu können.
Dieser kleine Wink hat mir gefallen. Am liebsten würde ich meine Schüler da hinschleifen, damit sie selber auf dem prachtvollen Boden gehen können und verstehen: es muss eins nach dem anderen kommen. Und der Unterbau darf auch später nicht vergessen werden, sonst fällt vielleicht alles in sich zusammen. In Zeiten von Apps und schnell verfügbaren Wissen tut es gut, mal wieder eine echte Sammlung von Wissen zu betreten. Zu sehen, wie hoch und angefüllt die Regale sind und dass sogar Leitern nötig sind, um die obersten zu erreichen. Und vom Bodenmuster daran erinnert zu werden, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen.