„Noch nie sah ich so malerische Ruinen“, schrieb Viktor Hehn, als er im 19. Jahrhundert die Villa Adriana in Tivoli besuchte. Ich stehe im ausgehenden Winter in Mantel, Stiefeln und Schal beim Dealer meines Vertrauens und habe eben das Hehn – Buch in einem seiner sich biegenden Regale ausgegraben. Es ist mir ein Begriff, weil es in fast jeder Italien – oder Rom – Bibliographie als eines der ersten auftaucht, neben Goethe und Gregorovius. Und jetzt halte ich es in der Hand? Dieses Juwel? Ich dachte, das gibt es gar nicht mehr! Keine Frage, ich kaufe es. Laufe durch den Schneematsch nach Hause und fange gleich an, drin zu blättern. Und was gibt es Schöneres, als im rauhen Germanien von südlichen Gefilden und ein paar Sonnenstrahlen zu träumen.
Sechs Monate später befinde ich mich auf dem Gelände der Villa Adriana in Tivoli, in weissem Leinen, Sandalen und Sonnenhut. Meine Fussrücken sind braungebrannt, die Füsse staubig, weil es hier wochenlang nicht geregnet hat. Es hat 38 Grad im Schatten und wir sind so ziemlich die einzigen Lebenden hier, abgesehen von den Schildkröten im grün schillernden Wasser des Canopo und einer freundlichen Katze, die in einem Blumentrog döst. Die Hitze, die Trockenheit, alle Anstrengungen sind völlig egal: wir sind beide schlicht überwältigt von der Grösse und Schönheit der Villa oder dessen, was davon noch übrig ist. Wir wandern durchs pinien – und zypressenbestandene Gelände und ich kann nicht anders als zu denken: „Noch nie sah ich so malerische Ruinen.“
Da die Villa Adriana zu den Hauptsehenswürdigkeiten Roms gehört, hatten wir einen ähnlichen Rummel wie in der Villa d’Este oben in Tivoli erwartet. Ausser meinem treuen Gefährt waren etwa zehn andere Autos auf dem Parkplatz. Aber das Areal der Anlage ist so riesig, dass wir nur einmal kurz andere Menschen zu Gesicht bekamen. Wir hatten auch ehrlich gesagt ein viel kleineres Anwesen erwartet. Ein Reiseführer warnte, selbst für den Schnelldurchlauf brauche man einen halben Tag, und ich dachte erst, das ist halt ein gründlicher Enthusiast. Aber: ein halber Tag reicht grade so. In der „Villa“ lebten zeitweise 20 000 Menschen, inklusive einer Garde aus 1000 Soldaten. Die hatten natürlich alle Behausungen, und Thermen, und Wandelgänge. Das Gelände entspricht gefühlt dem unseres Städtchens. Die zahlreichen Ruinen werden immer wieder unterbrochen von grossflächigen Olivenhainen, in denen man im Halbschatten ausruhen kann: ein wunderbarer Wechsel aus ergriffen und erstaunt sein und kurz die Seele baumeln und nachkommen lassen. Und drüber reden, was für aussergewöhnliche, kreative, leicht verrückte Ideen dieser Kaiser hatte.
Hadrian lebte in einer der wenigen ausgesprochen friedlichen Zeiten des römischen Kaiserreichs. Er reiste sehr viel in seinem immensen Reich, das damals die grösste Ausdehnung hatte: von Schottland (wo er seinen Wall baute) über Spanien (wo er geboren war), seinem Lieblingsaufenthalt Ägypten, Palästina, Syrien und Griechenland, das ihm auch besonders am Herzen lag. Als er älter und ruhiger wurde, beschloss er, all seine Lieblingsorte in der Nähe von Rom nachzubauen – aber nicht in Rom, um nicht ständig gestört zu werden. Und so findet man in der Ebene bei Tivoli die irrwitzigsten Nachbauten von damals berühmten echten Orten, oder Bauten, die von existierenden Vorbildern inspiriert wurden. Hadrian liess es sich auch nicht nehmen, die meisten der Gebäude selber zu entwerfen. Mir gefällt seine Vorliebe für ungewöhnliche Grundrisse: lange Ovale, komplett rund, mehreckig, und oft mit sehr hohen Kuppeln. Was ich nicht wusste: auch die Engelsburg in Rom ist ein Entwurf von ihm. Sie war ursprünglich sein Mausoleum und wurde erst in späteren Jahrhunderten umgebaut. (Und wer meint, er war ein bisschen grössenwahnsinnig, sollte dran denken, dass Hadrian gern in Ägypten unterwegs war und die Pyramiden kannte. So werden halt Herrscher beerdigt.) Das „Teatro Marittimo“ ist so ein netter exzentrischer Ort. Rund, mit einer Insel in der Mitte, die von Wasser umgeben ist und nur über Zugbrücken erreicht werden kann. Hierhin zog er sich zum Lesen und Nachdenken zurück.
Hier wie in allen anderen zahlreichen künstlichen Seen und Wasserflächen schwammen Schildkröten, die träge unter Wasser paddelten oder ihre Köpfchen kurz mal nach oben streckten. Das fand ich einerseits richtig nett, weil ich noch nie so viele Schildkröten gesehen habe – andererseits hat ihre Anwesenheit eine gewisse tragische Komponente, die alles mit Melancholie erfüllen könnte. Hadrians junger Geliebter, der von herausragender Schönheit gewesen sein muss, ertrank auf einer der Reisen beim Schwimmen im Nil. Zum Andenken an ihn gestaltete Hadrian das sogenannte Canopo, der Fleck der Villa, der mir am besten gefallen hat: unglaublich malerisch und ausgewogen und perfekt. Ein sehr langes, ovales Becken (mit noch mehr Schildkröten und einer Krokodilsstatue) soll an den Nil erinnern, am einen Ende ist eine Nachbildung eines Serapis – Heiligtums, in dem regelmässig abendliche Parties stattfanden (angeblich mit geheiztem Sand, damit man sich wirklich wie in Ägypten fühlt – ein Gedanke, den ich bei 38 Grad schnell von mir schiebe…), und am anderen die meistfotographierte Ansicht der Villa, ideale Statuen in Bogengängen, die sich im grünen Wasser spiegeln. Ich könnte mir vorstellen, dass Viktor Hehn, diese Stelle meinte, als er das mit den malerischen Ruinen schrieb… Eine Steigerung ist kaum noch möglich.