Schneelektüre

Vor Weihnachten habe ich mir zwei Bücher gekauft, die ich jetzt erst lesen konnte. Zufällig spielen beide im Winter, das eine zumindest zeitweise, und verlängern so meine Schneefreuden – die perfekte Januarlektüre! Und beide sind so atmosphärisch und verzaubernd, dass man sie nur lesen sollte, wenn man lange, ruhige Abende vor sich hat, an denen man nichts anderes mehr leisten muss. Einmal, um sie angemessen zu geniessen, und dann, weil grade Donna Tartts „Die geheime Geschichte“ ein Roman von der suchterzeugend – fesselnden Sorte ist, bei dem man ständig überlegt, wo man noch eine Minute hat, um weiterzulesen. So ein Roman, bei dem man in den drei Tagen, in denen man ihn verschlingt, aufhört, zu kochen oder sich sonst wie um anständiges Essen zu bemühen und die Frage, was es gibt, nur noch zwischen „schnell ein Brot in der Hand, während die andere das Buch hält“ und „ich ess morgen, das reicht auch noch“ pendelt. Die Sorte Buch, die einen mit Freuden zum Einzelgänger werden lässt, der nichts von der Welt draussen wissen will.

Es gibt kaum was gemütlicheres, als von verschneiten, bitterkalten Wintern in Vermont zu lesen, während man warm und gemütlich eingekuschelt auf dem Sofa liegt. Die Geschichte um sechs Collegestudenten, die quasi aus Versehen einen Mord begehen und ihn mit einem anderen vertuschen müssen, entwickelt sich gnadenlos und mit einem Sog, der weit über das Krimiartige hinausgeht. Es geht um Fragen der Moral, Schuld und Verantwortung. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr hat man das Gefühl, in einer griechischen Tragödie zu sein, die sich auf ein unausweichliches Ende zubewegt. Wem das zu dostojewskihaft oder philosophisch klingt: das ist es nicht (nur). Das fesselnde daran ist ja grade, dass diese Gruppe von Altgriechischstudenten exzentrisch, dekadent und elitär ist, das Ganze aber so alltäglich und detailreich beschrieben in den normalen amerikanischen Unialltag eingebettet ist, dass man kaum Distanz spürt. Im Gegenteil, man fragt sich: wo wäre ich da gestanden? Wie hätte ich gehandelt?

(Kleiner Exkurs: das Buch spricht mich auch auf besonders persönliche Weise an, weil es exakt in dem Jahr herauskam, in dem ich in Amerika studiert habe. Vieles an den Alltagsgegebenheiten erkenne ich wieder, und es gibt mehr als eine Parallele zu meinem Leben auf dem Campus des ländlichen Kleinstadt – Colleges, in dem ich studiert habe. Und wir waren sogar ein noch kleinerer Zirkel: nur drei Klavierstudenten um einen charismatischen, wohlgesonnenen und grosszügigen Professor, dem unsere allgemeine Erziehung und Bildung mindestens so am Herzen lag wie unsere handwerklich einwandfreie Ausbildung am Klavier. Und wie Camilla im Buch war ich das einzige Mädchen in einer Männergruppe und hab da ganz anders gelernt, mich zu behaupten. Deshalb meine grosse Faszination für den Roman, die andere vielleicht nicht nachvollziehen können – auf eine gewisse Art ist es eine Zeitreise für mich.)

„Die geheime Geschichte“ ist aus den Neunziger Jahren und Donna Tartts erstes Buch. Ich war sicher, dass es verfilmt ist – der Stoff schreit geradezu danach – aber glücklicherweise hat sich noch niemand gefunden, der dazu bereit wäre. Es ist die Art Geschichte, in der man trotz Düsterkeit und Gruselelementen so lange wie möglich verweilen möchte. Und ein Film wäre viel zu schnell vorbei. Die Figuren sind komplex und differenziert beschrieben, und in einer sprachlichen Brillanz und Üppigkeit, die ihresgleichen sucht. Wie in ihrem sensationellen anderen Roman „Der Distelfink“ habe ich nach der Lektüre das Gefühl, dass ich jede der Gestalten selber schon lange kenne. Und mit einer Deutlichkeit und Intensität, wie man sie in Dickens – Romanen findet.

Es ist ein düsteres Buch übers Erwachsenwerden, aber ich würde es keinem Jugendlichen schenken.

„Winter in Wien“ von Petra Hartlieb hingegen ist zarte, unschuldige, märchenhafte Leküre, die man Vierzehnjährigen wie Grossmüttern gleichermassen unbedenklich schenken könnte. (Und ich muss zugeben: ich hab es wegen des ungeheuer dekorativen Jugendstil – Covers gekauft, und schon deshalb würde es sich als Geschenk wunderbar eignen.) Während die Figuren im anderen Roman prall voll Leben und Schrulligkeiten sind, bleiben die beiden Hauptpersonen hier relativ blass. Auch sie sind um die 20, wachsen aber in einem völlig anderen, entbehrungreicheren Umfeld auf. Ausserdem arbeiten sie und hätten weder das Bedürfnis noch die Zeit, sich zuzudröhnen oder bewusstseinserweiternde Bacchanale zu veranstalten: Marie ist Kindermädchen bei Arthur Schnitzler, Oskar Angestellter in einer Buchhandlung, in der sie sich auch kennenlernen.

Der kurze Roman spielt sich innerhalb weniger Tage 1911 in Wien ab. Bald ist Weihnachten, und es beginnt tatsächlich zu schneien. Bilder von schneebedeckten Parkflächen, leise fallenden Flocken und Schlittenausflügen mit den Kindern sind Balsam für die winterliebende Seele und ein passender Hintergrund für die zarte Geschichte. Es gibt kaum eine erwähnenswerte Handlung, aber ich denke, das war auch so geplant. Petra Hartlieb wollte wahrscheinlich einen kurzen Moment aus dem Leben im Umfeld Schnitzlers herausnehmen und wie unter einer Lupe Wiener Alltagsleben kurz vor Weihnachten zeigen, komplett mit dem ganzen Zubehör einer untergegangenen Zeit wie eben Dienstboten, Köchinnen, aufwendigen Abendessen und Kindermädchen, die selber zwar lesen können, aber noch nie in einer Buchhandlung waren. Alles könnte fast zu schlicht sein, wenn sie nicht den Moment herausgepickt hätte, der den Kern zu einer spannenden Entwicklung in sich trägt (die dann im Buch nicht mehr vorkommt…): Marie kommt in Kontakt mit der magischen Welt der Bücher und allem, wofür sie stehen können – Bildung, Weiterentwicklung, Weltflucht – , und man ahnt und hofft, dass sie nicht immer Kindermädchen bleiben wird. Diese Begegnung mit anderen Sphären deutet eine positive Entwicklung der Hauptfigur an. Man möchte gern erfahren, wie es ihr mit 30 geht, weil man schon ahnt, dass es nur angenehm und erfreulich sein wird. Hingegegen die überlebenden Studenten aus dem anderen Roman – ich weiss nicht… Sie sind schon mit Anfang 20 so exzessiv und haltlos, dass bei manchen der Absturz direkt vorprogrammiert ist. Das will man dann lieber gar nicht wissen. Auch in der Hinsicht hat „Winter in Wien“ was Märchenhaftes: sie werden glücklich bis an ihr Ende leben, man kann beruhigt das hübsche Buch zuklappen und die Nachttischlampe ausknipsen.

(Abbildungen: Kindler -Verlag, Goldmann – Verlag)

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