… und in die eigene Vergangenheit. Ich hatte das grosse Glück, in einer wunderschönen Stadt zu studieren und die ersten Berufserfahrungen zu sammeln, in der ich weder geboren noch aufgewachsen bin und in der ich jetzt auch nicht mehr lebe. So bleibt sie für alle Zeiten der Ort, an dem ich mich immer frei und glücklich gefühlt habe, so vieles zum ersten Mal erlebt oder probiert habe, jung und voller Idealismus war. Eine Insel der Seligen irgendwie. Und das erstaunliche ist: dieser Ort ist und bleibt wunderbar für mich. Kaum bin ich dort, kommen diese Gefühle wieder. Ich fühle mich schlagartig um 20 Jahre jünger, neugieriger und wacher als wo anders. Meine Beine erinnern sich an das Tempo, in dem ich damals – autolos und ständig auf dem Weg zu irgendwelchen Terminen – durch die Stadt gelaufen bin. Definitiv ein anderes Tempo, als wenn ich hier am Inn entlang in die Stadt schlendere und nach dem Eisvogel Ausschau halte.
Diesmal bin ich zum ersten Mal im Leben in Würzburg Auto gefahren. Unglaublich eigentlich! Es war ein gutes Gefühl, sich der Stadt in meinem kleinen Auto zu nähern, das ich mir dank meines Studiums hier komplett selber erarbeitet habe. Wer hätte das damals gedacht, mit diesem brotlosen Konzertfach-Klavier-Studium… Auch sonst ist unser Lebensstandard so anders jetzt: für meine ehemalige Mitstudentin und mich war klar, dass wir in ein feines Hotel gehen wollten, mit Wellness-Bereich und allen Schikanen. Damals haben wir so anders gelebt! Nicht gerade ärmlich, denn als Musikstudenten hatten wir von Anfang an die Möglichkeit, mit Mucken und anderen Jobs ganz gut zu verdienen, aber doch bewusster und einfach auf einem bescheideneren Niveau als heute. Ich habe mich daran erinnert, dass ich immer freitag nachmittags noch eine Schülerin hatte, von der ich damals fünfzehn Mark für die Stunde bekam. Damit kaufte ich danach meine Lebensmittel für die ganze Woche: Milch, zwei grosse Gläser Joghurt, Knäckebrot, Obst und Gemüse. Und es war gar nicht wichtig, mehr Geld zu verdienen als ich brauche – meine Bedürfnisse und Möglichkeiten haben sich gedeckt. Was für ein seliger Zustand. Damals war mir gar nicht bewusst, wie reich ich bin.
Meine Wohnung war kleiner als jetzt und im Nu geputzt, die Nebenkosten absolut überschaubar, meine paar Kleider hingen übersichtlich auf einer Stange, weil ich keinen Schrank wollte. Dafür war das Leben angefüllt mit sinnvoller Beschäftigung, ganz viel Klavierspielen oder Musizieren mit anderen, Stunden in der Bibliothek, ständigem echtem Kontakt mit Menschen. Und jetzt? Brauche ich allein zwei Tage, um nur die Fenster zu putzen. Muss mich bemühen, dem Klavier so weit Priorität einzuräumen, dass ich am Tag wenigstens eine Stunde zum Üben komme. Sehe meine Freunde kaum noch in echt, weil jeder genau so beschäftigt ist wie ich und wir weit auseinander wohnen. E-Mails oder Anrufbeantworter-Nachrichten haben das Teetrinken im Brückenbäck abgelöst. Eigentlich eine traurige Entwicklung, aber es scheint allen gleich zu gehen.
Um so schöner ist es, wenn man sich dann ein Wochenende lang in echt sehen kann und feststellt: es ist nicht nur die Stadt, die den Zauber ausübt, sondern auch die Kontakte von früher. Es war so schön, die beiden Freundinnen zu sehen und festzustellen, dass sie sich über zwanzig Jahre hinweg treu geblieben sind. Und dass wir uns mögen und so viel zu sagen haben wie am ersten Tag – es war, als ob wir uns gestern zum letzten Mal gesehen hätten. Und letztlich sind es die Menschen, mit denen wir einen gewissen Lebensabschnitt verbracht haben, die die Erinnerungen in uns lebendig werden lassen: nicht die Strassen oder die alten Wohnungen, sondern die vielen „weisst du noch“ und das gemeinsame Lachen. Oder das wortlose Sich – Anschauen und Verstehen, wenn einem nicht zum Lachen zumute ist.
Die Tage in meiner alten Studentenstadt haben mich wieder daran erinnert, was mir mal wichtig war im Leben und was in diesem braven, korrekten Doppelhaus-Vorstadtleben manchmal verschüttet wird: Freundinnen treffen ist wichtig, Musikmachen ist wichtig, entspannt Kaffee trinken auch. Und nicht: Arbeiten bis zum Umfallen oder sinnlos Geld scheffeln, weil man vielleicht irgendwann Rücklagen brauchen könnte. Das Leben findet jetzt statt.