Bisher hat es in keinem Schuljahr so lange gedauert, bis ich das Gefühl hatte, wieder im Alltag angekommen zu sein. Der übliche Wirbelwind der ersten Schulwochen hat sich ewig nicht gelegt und mein Stundenplan glich drei Wochen lang einem gerade entdeckten Mosaik, an dem mehrere Archäologen vergeblich versuchen, zu viele weisse Löcher zu füllen. Ich weiss nicht, ob es daran lag, dass ich an der Schule zwölf neue Schüler und keine Abbrecher habe oder an den zwei Winterreise-Konzerten, die der Veranstalter Anfang Oktober wollte – auf jeden Fall hatte ich noch nie so sehr den Impuls, mich einfach ins Auto zu setzen und spurlos zu verschwinden, nach Triest oder gleich nach Jordanien!
Dabei habe ich alles unternommen, um mich wieder verwurzelt und in Kontrolle der Lage zu fühlen. Als Ausgleich für die vielen Dutzend Telephonate mit Eltern habe ich ungefähr 150 Blumenzwiebeln gepflanzt in völliger Einsamkeit und Ruhe. Wie immer im September dekorierte ich den Kaminsims mit alten Büchern und Kerzen, um meine Schüler daran zu erinnern, dass jetzt wieder die Zeit des Lesens und Lernens begonnen hat. Normalerweise fühle ich mich spätestens dann als Lehrerin, wenn ich mein neues Unterrichtsnotizbuch für dieses Jahr anlege und neue Bleistifte und Buntstifte am Klavier deponiere. Nicht mal eine wunderbare viktorianische Karte aus England half, auf der zwei Damen am Klavier dargestellt sind – im Gegenteil, das löste eher den heftigen Impuls aus, sofort zu den beiden Freunden nach London abzuhauen, die sich dort einen Urlaub gönnten.
Nichts half. Bis letzten Freitag, als sich das Angekommen-Gefühl auf völlig unerwartete Weise einstellte. Ich muss mich erst daran gewöhnen, so viele Schüler zu haben wie Mozart Symphonien geschrieben hat. Wenn die letzten beiden am Freitag gegen Abend klingeln, muss ich mich daran erinneren, genau so nett und konzentriert zu sein wie montags um 13.15 Uhr. Diesmal kam nur einer der Brüder, was bedeutet, dass wir doppelt so lange Zeit hatten. Wir standen an der Terrassentür, er lehnte halb auf dem Sofa, und starrten beide wortlos in den bunten Herbstgarten. Die roten Blätter unseres japanischen Ahorns und der gelbe Tulpenbaum der Nachbarn glänzten im leise fallenden Regen. Daran, dass mein neunjähriger Schüler so ungewohnt ruhig und still war, merkte ich, dass er mit seiner kleinen Welt genauso beschäftigt war wie ich mit meiner. Als wir lange genug geguckt hatten, meinte er:
„Weisst du, was schön ist? Dass du schon die Zimtkerze an hast. Und wie der Regen in deinen Teich fällt.“
Und in dem Moment macht es klick in mir. Plötzlich war ich wieder da, hier in meinem Unterrichtszimmer, um geduldig die immer gleichen Übungen zu zeigen, Pläne fürs Schuljahr zu schmieden, möglichst nächste Woche mit den Weihnachtsliedern anzufangen. Und alles war gut.