Da zwei Personen, die mir sehr nahestehen, am 8. Juni Geburtstag haben, denke ich jedes Jahr auch an Robert Schumann, der dieses Geburtstagsdatum mit den beiden teilt. Sein 200. Geburtstag dieses Jahr ist Anlass für viele Feierlichkeiten und Konzerte, und obwohl ich aus Überzeugung immer viel Schumann mit meinen Schülern spiele, hat es dieses Jahr eine besondere Bedeutung. Schumann hat uns Klavierspielern einen unglaublich umfangreichen Schatz an Literatur für alle Altersstufen hinterlassen – hier eine kleine Auswahl an Werken, die ich gerne mit Schülern erarbeite.
Natürlich steht das „Album für die Jugend“ am Anfang – aber nicht nur. Nach drei, vier Jahren Unterricht ist man bereit für die ersten leichteren Stücke, doch viele der folgenden Stücke versteht und schätzt man erst, wenn man älter ist. Deshalb würde ich den Titel wörtlich nehmen und auch noch mit Neunt- und Zehntklässlern, die im normalem bis langsamen Tempo lernen, Stücke wie das Reiterlied, Gade, Winterzeit oder die wunderschönen unbetitelten „***“ – Stücke studieren. Da jedes Stück einen ganz ausgeprägten Charakter hat, nehme ich sie auch gern als Hörbeispiele, um zu erklären, was romantische Klaviermusik überhaupt ist. Oder ich lasse ganz kleine Kinder die Stimmungen und Emotionen beschreiben – auch eine tolle Hörübung, oft mit sehr kreativen und überraschenden Erklärungen.
Mit den Kinderszenen dagegen sollte man sich Zeit lassen. Hier ist der Titel irreführend und kommt auch manchmal bei den Schülern falsch an: „jetzt bin ich schon so groß und lerne so lange, und sie will, dass ich mich mit Kinderkram berschäftige?“ Obwohl die Stücke oft nur eine Seite lang sind, stecken alle möglichen Schwierigkeiten in ihnen. In manchen, wie der bekannten „Träumerei“ oder „Glückes genug“, zieht Schumann alle Register romantischer Klavierkompositionskunst, und man kann sich gut und gerne bis zur 10., 11. Klasse damit Zeit lassen. Dass auch „echte“ Pianisten diese Stücke gern als Zugabe spielen oder in vorgerücktem Alter als Zyklus aufnehmen, zeigt auch, wie gehaltvoll sie sind. Überhaupt, die Zyklusidee bei Schumann: schon bei den „Kinderszenen“ fängt es für mich an, frevelhaft zu sein, Einzelstücke aus der durchdachten Gesamtkomposition herauszunehmen. Das spricht auch dafür, dieses Opus nicht zu früh zu beginnen, sondern erst, wenn auch die schwierigsten Stücke überblickt werden können. Trotzdem mache ich mich regelmässig der Fledderei schuldig, da ich finde, dass „Von fremden Ländern und Menschen“, das erste Stücke der „Kinderszenen“, der perfekte Einstieg in die Klaviermusik Schumanns und der Romantik überhaupt ist. Es enthält zwei ganz wichtige Parameter der romantischen Klaviermusik: eine singende Melodie über einem dichten dreistimmigen Satz und eine schwierig zu spielende Mittelstimme mehr oder weniger in den Daumen der beiden Hände, die unaufdringlich, aber enorm wichtig die Dynamik und Phrasierung der Oberstimme mitformt. In einem Interview, das Alicia de Larrocha vor fast 40 Jahren gab, sagte sie sinngemäss, dass die Melodie in einem Chopin- Nocturne ganz entscheidend von der Unterstimme gefärbt und gestaltet wird. In „Von fremden Ländern“ kann man in ganz kleinem Massstab lernen, was sie darunter versteht. Deshalb lasse ich meine Schülern am Anfang nur die Mittelstimme mit beiden Händen spielen. Man soll nicht merken, wo die Hände sich abwechseln, und man soll trotz ständiger Daumen legato und geschmeidig spielen, und dann soll es auch noch leise und trotzdem ausdrucksvoll sein – dafür, dass man diese Stimme im Idealfall später kaum bemerken soll, ist das viel Arbeit! Dann kombinieren wir Bass und Mttelstimme, danach die Melodie und die Mittelstimme. Dafür nehmen wir uns auch wieder viel Zeit und versuchen, die Oberstimme mit crescendo und decrescendo schön zu gestalten, natürlich zart unterstützt von der Mittelstimme. Langsam kann man versuchen, alle drei Stimmen auf einmal zu spielen, aber mit viel Zeit für Wiederholungen. Ein Mal achten wir auf die Ausgewogenheit der drei Stimmen, ein Mal auf einen sonoren, aber nicht zu lauten Bass und so weiter. Auch wenn der Schüler vielleicht ungeduldig wird und nicht versteht, warum wir uns bei einem auf den ersten Blick relativ leichtem Stück so lang aufhalten, möchte ich da ganz sorgfältig vorgehen, sozusagen exemplarisch für die ganze Romantik. Später profitieren wir alle davon!
Diese Technik braucht man unter anderem auch für die fünf „Albumblätter“, die Bestandteil der „Bunten Blätter“ op. 99 sind. Es sind relativ unbekannte, kurze Stücke, aber für mich die reinsten Juwelen und für interessierte fortgeschrittene Schüler ganz wunderbar geeignet, um tiefer in Schumanns Gedankenwelt einzutauchen. Vor allem im dritten und fünften Stück kann man wieder versuchen und üben, eine singende Melodie über einer mehrstimmigen Begleitung zu spielen. Beide Stücke gehören für mich zum Schönsten, was Schumann geschrieben hat – Miniaturen, aber ausdrucks- und gehaltvoll wie Haikus. Das zweite Stück ist nicht so schwer, wie es aussieht. Leider habe ich es bisher mit keinem meiner Schüler geschafft, aber es wäre ein schönes Projekt, diese fünf Stücke als kleinen Zyklus aufzuführen.
Für ambitionierte Schüler sind die „Papillons“ empfehlenswert, allerdings sollten das Schüler sein, die genügend Blut geleckt haben, um auch bei technischen Herausforderungen nicht schlapp zu machen. Und davon gibt es einige in diesen auch relativ kurzen Stücken, zum Beispiel gleich den Anfang des zweiten Stücks: wenn so ein fulminantes Es-Dur-Arpeggio, was ja eigentlich nicht schwer ist, nach dem zarten ersten Stück ff, schnell und treffsicher und auch noch brillant daherkommen soll, kann es leicht zu einer Angststelle werden. Und vor Panik kümmert man sich dann nicht um den durchsichtigen lyrischen zweiten Teil, der eigentlich viel schwerer ist… Ich unternehme diese „Papillons“-Entdeckungsreise gerade mit Antonia – sie ist erst in der 9. Klasse, aber sehr fit. Nr. 1 bis 4 hat sie vorgestern im Montagskonzert gespielt, ansonsten sind wir bis Nr. 7 gekommen und ich bin glücklich, wie leicht ihr alles fällt und mit wie vielen wunderbaren eigenen Ideen sie diese Musik erfüllen kann.
Für welche Schüler ist Schumann geeignet? Es klingt klischeehaft, aber ich stelle immer wieder fest, dass sich meine Schüler in zwei Lager teilen, wenn wir langsam mit „richtiger“ Literatur beginnen: es gibt die handfestere Schumann/Brahms/Grieg-Fraktion, die es geniesst und braucht, bis zu beiden Ellenbogen in Akkorden zu stecken, und es gibt das Chopin/Debussy/Rachmaninoff-Lager, das eher zarte, flirrende Aquarellfarben, garniert mit glitzernden Läufen, bevorzugt. Ich versuche natürlich, meinen Schülern möglichst viel verschiedene Literatur anzubieten, doch im Lauf der Zeit kristallisiert es sich heraus, bei was die einzelnen sich wohler fühlen, und das sind in der Regel auch die Stücke, die sie in Konzerten spielen. Generell finde ich, dass Schumann es mit seinen jähen Stimmungschwankungen Pubertierenden leicht macht, sich mit solchen Gefühlszuständen zu identifizieren. In dieser Zeit des Suchens und Probierens kommt es den Schülern entgegen, „extreme“ Stücke zu spielen, innerhalb von Sekunden himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt zu sein. Solche Literatur ist für manche ein grossartiges Ventil, um sich auszuleben.
Und Schumann für mich? Mmh, die „Fantasie“ … und „Kreisleriana“, immer wieder…
(veröffentlicht in „Pianonews“ 1/2011)