Die schönsten Momente in den letzten Schulwochen waren die Minuten vor Unterrichtsbeginn, wenn ich im Erdinger Gymnasium meine Sachen ordnete und in den Übezimmern nebenan meine beiden Abiturientinnen Elisabeth und Anna sich munter und flott durch den ganzen Quintenzirkel spielten. Gleichzeitig, aber in verschiedenen Zimmern. Sie wussten nicht, daß ich sie hörte, und ich musste immer wieder innehalten, um zuzuhören und um glücklich zu sein, weil sie freiwillig früher kamen, sich freiwillig derartig einspielen und wohl spüren, daß es ihnen geistig und körperlich guttut. Elisabeth brauchte die Tonleitern für ihre Aufnahmeprüfung (in diesen Tagen wird sie ihr Musikstudium aufnehmen), und ich war einfach zufrieden und beglückt, daß ich beide mit einer so gepflegten Technik ins Leben und zu anderen, besseren Lehrern entlassen kann. Und dieses lockere in-den-Fingern-haben und Beherrschen eines zwar bescheidenen, aber doch wichtigen Kulturguts war für mich symbolhaft für den Punkt, an dem sie jetzt angekommen waren: die Abiturprüfungen hinter sich, viel Wissen in sich und an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Doch leider ist es nicht immer so, daß Tonleitern so gerne und beschwingt gespielt werden. Nachdem ich gestern bei den freiwilligen Leistungsprüfungen in der Musikschule viele, viele Tonleitern hören durfte und mit Kollegen und Eltern darüber diskutierte, muß ich ein paar Gedanken zum Skalenspiel loswerden. Wie kann es sein, daß eine so simple und selbstverständliche Sache so viele Fragen aufwirft?
Es ist eine traurige Tatsache, daß Tonleitern allgemein unbeliebt sind. Viele Eltern oder andere, die früher Klavierstunden hatten, erzählen, daß es ihnen Spaß machte, bis sie diese furchtbaren Tonleitern spielen mussten – „mein Daumen war immer zu laut“ oder „ich konnte nie beide Hände gleichzeitig“ sind die häufigsten Kommentare. Stumpfsinniges, stundenlanges Tonleiterspiel erinnert auch an die Zeit der berüchtigten „schwarzen“ Klavierpädagogik im 19. Jahrhundert, von der wir uns als aufgeklärte Menschen natürlich distanzieren. Aber woher kommt der schlechte Ruf dieser harmlosen Übung? Mögen wir Klavierlehrer am Ende die Tonleitern auch nicht und vermitteln deshalb ein schlechtes Bild? Oder haben wir Angst davor, weil sie eines der wenigen Mittel sind, anhand derer man das Können oder den Fortschritt eines Schülers objektiv messen kann?
Eine schöne gespielte Tonleiter kann ein wunderbarer Start in einen erfolgreichen Übetag sein. Man registriert seine körperliche Verfassung, merkt, ob man vielleicht noch ein bißchen müde ist oder ob die kleinsten Muskeln schon hellwach sind, registriert auch die Verfassung des Klaviers – hat sich der Regen in der Nacht oder der heiße Tag gestern auf die Mechanik ausgewirkt? Kurzum, es ist eine wichtige Bestandsaufnahme, und wenn man die Übung etwas ausweitet, einfach perfekt, um sich geistig und körperlich zu sammeln und aufzuwärmen. (Für mich steht in den letzten Jahren die Sammlung im Vordergrund – bei einem so vollen Leben und mit so viel Plänen und Ideen für den jeweiligen Tag im Kopf brauche ich tatsächlich Zeit, um am Klavier anzukommen. Früher war das nicht so!) Und was spielen weltberühmte Geiger, die die gesamte Literatur in den Fingern haben, wenn sie ein unbekanntes Instrument ausprobieren? Eine Tonleiter, oft sogar eine langsame, um wirklich alle Farben und Möglichkeiten der Geige zu erspüren und zu hören!
Als Kind und Jugendliche durfte/musste ich alle Tonleitern spielen, jahrelang rauf und runter, und die Dreiklänge auch noch dazu. Ich bin meiner Lehrerin dankbar dafür, denn ich zehre heute noch von den Fertigkeiten, die ich damals entwickelt habe, und ich bin auch sicher, daß es sich positiv aufs Blattspiel auswirkt. Im Methodikunterricht an der Hochschule legte Frau Prof. Thauer ebenso viel Wert auf schön gespielte Tonleitern – der wöchentliche Unterricht unserer Lehrprobenschüler begann immer mit einer Tonleiter, bei der wir uns mit rhythmischen oder Artikulationsänderungen einige Minuten aufhielten. Denn abgesehen vom theoretischen Rüstzeug, das man beim Skalenspiel mitbekommt, kann man sich bei diesen leichteren, immer gleich bleibenden Übungen sehr gut um Hand- und Körperhaltung kümmern und die Aufmerksamkeit des Schülers auf eventuelle Fehlhaltungen lenken.
Daher sind Tonleitern auch in meinem Unterricht ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer soliden Technik. Ich beginne mit den Anfängern mit Fünftonübungen in verschieden Tonarten. Diese Übungen sind sehr gut, um sich auf dem Klavier zu orientieren, die ersten Vorzeichen kennenzulernen, und natürlich, um eine gute Handhaltung und Kraft in den Fingern zu entwickeln. Wir spielen sie spiegelbildlich vor und zurück oder in die gleiche Richtung, dann staccato und legato oder mit unterschiedlichen Rhythmen. Falls Murren oder Langeweile aufkommt, lasse ich die Schüler würfeln, wie oft eine Übung gespielt wird – ein Urteil, das ohne Diskussion akzeptiert wird und besonders im Gruppenunterricht zu „nochmal, nochmal!“ führt. Sind die Kinder fit in diesen kleinen Übungen, gehen wir allmählich zu einer ganzen Tonleiter über, die wir am Anfang wegen der gleichen Fingersätze spiegelbildlich spielen. Erst wenn sich das gesetzt hat und mehrere Tonarten bekannt sind – es kann Monate oder Jahre dauern – , beginnen wir mit der „schweren“ Tonleiter in eine Richtung über zwei Oktaven. Mit der erwähnten Vorarbeit ist es jetzt gar nicht mehr schwer, vor allem, wenn die Schüler unvoreingenommen an die Sache herangehen und noch nichts Negatives über Tonleitern gehört haben. Und dann begleiten uns die Tonleitern mehr oder weniger freiwillig jahrelang, mit viel Nutzen für brillante Stellen in Sonaten oder klar artikulierte Läufe in Bachs „Französischen Suiten“. Und falls wieder der berühmte Eröffnungssatz kommt: „Ich konnte nicht üben, weil sich mein Hamster übergeben hat“, kann man mühelos eine ganze Klavierstunde mit schön und liebevoll gespielten Tonleitern verbringen und hat als Lehrer noch das gute Gefühl, den Schüler durch dieses Sondertraining ein Stück weiter gebracht zu haben.
Als ich meine sechs Schüler im April zur Prüfung anmeldete, machte ich mit ihnen aus, daß die Tonleitern wie gewohnt mit beiden Händen über zwei Oktaven gespielt werden und im Anschluß daran die Arpeggien folgen. Obwohl die Musikschule für dieses Jahr die Bedingungen noch dahingehend lockerte, daß man auch einstimmig hätte spielen können, blieb ich dabei, denn schließlich konnten es alle schon so. Und mit der langen Vorbereitungszeit war es für keinen ein Problem. Mir war auch wichtig, daß die Tonleiter nicht nur runtergerattert wird, sondern als kleines musikalisches Ereignis präsentiert wird, mit bewußtem Anfang und schönem Schluß und einem kleinen cresc. – decresc. dazwischen. Es sieht einfach professioneller aus, wenn man auch so einen kleinen Teil der Prüfung ernst nimmt und so schön wie möglich spielt, und ich muß sagen, daß meine Schüler gestern schon sehr nah an diese Wunschvorstellung herankamen. Ich bin oft genug in Juries gesessen, um zu wissen, daß es gewisse Ermüdungsphasen gibt, wenn man sieben Stunden lang gleichaltrige Kinder die gleichen Pflichtstücke spielen hört, und wenn sich jemand bei Kleinigkeiten wie dem Auftreten, dem Begrüssen oder dem sorgfältigen Absolvieren von Pflichtübungen Mühe gibt, ist das immer eine große Freude. Und für die Schüler, denke ich, auch ein Gewinn und ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Wer zeigt, daß er solche vielleicht ungeliebten Kleinigkeiten ernst nimmt und gut abliefern kann, dem kann man auch verantwortungsvollere Aufgaben anvertrauen.
(veröffentlicht in „Pianonews “ 6/2010)