Einer der ersten Sätze, die ich am Telefon von Interessenten gefragt werde, ist, wie viel eine Klavierstunde bei mir kostet. Ich frage mich hingegen im Alltag öfter, was eine Klavierstunde wert ist – sowohl für mich als auch für meine Schüler. Es gibt sie durchaus, die weniger glanzvollen Stunden, die eben stattfinden, weil es ausgemacht war. Und dann gibt es Stunden, die für beide Seiten so wertvoll und wichtig sind, dass man sich gleich danach auf die nächste freut, auch wenn sie vielleicht etwas in der Ferne liegt: ich spreche von unregelmässigem und sporadischem Unterricht, ein Konzept, das ich bisher rigoros abgelehnt habe.
Wieder hat mir das Leben gezeigt, dass man seine Meinung durchaus ändern kann und das für alle Beteiligten nicht das Schlechteste sein muss… Dieser Sinneswandel kam bei mir durch meine immer länger werdende Warteliste zustande, die mir durchaus schlaflose Nächte bereitete, da die Interessenten nicht einfach warten, sondern immer wieder anrufen oder nette Mails schreiben – und immer so nett und so „bedürftig“, dass ich mich fast schlecht fühle, weil ich mich um dieses bestimmte Kind nicht auch noch kümmern kann. Und so entstand aus einer Überrumpelungsaktion heraus die Idee, es mit Unterricht nur in den Ferien zu versuchen – für ein zehnjähriges Mädchen. Für mich war es bewusst ein Versuch mit der Option, wieder aufzuhören, falls es sich als sinnlos erweisen sollte. Aber – es läuft grossartig. Die Kleine ist absolut wissbegierig und fleissig und kommt mit so einer konzentrierten Miene und einer Menge an konkreten Fragen, dass ich mir oft wünsche, meine regelmässigen Schüler würden sich auf diese gewissenhafte Weise vorbereiten. Bei ihr spielt vielleicht auch die Tatsache eine Rolle, dass sie eine halbe Stunde mit dem Auto gebracht werden muss. So ist die Klavierstunde ein besonderer und aufwendiger Termin, bei dem keine Minute vergeudet wird. Das läuft jetzt schon über ein halbes Jahr so: wir haben sehr intensive Stunden, sehen uns dann wochenlang nicht, knüpfen aber genau da an, wo wir aufgehört haben. Ich integriere sie auch in meine Schülervorspiele – einmal, um ihr das Gefühl zu geben, wirklich willkommen und „Teil des Ganzen“ zu sein, und dann natürlich, um einen zusätzlichen Übeanreiz zu schaffen und beim Einspielen noch mal etwas Zeit extra mit ihr zu verbringen.
Ein anderes, auch etwas unübliches Modell ergab sich, als eine ältere Schülerin dezent versuchte, eine Freundin von sich bei mir unterzubringen, indem sie vorgab, in den letzten beiden Jahren vor dem Abitur zu viel zu tun zu haben. Die beiden fragten, ob sie sich quasi einen Platz teilen können, indem jede nur alle zwei Wochen kommt. Nach ein paar Wochen stellte sich heraus, dass die Zeit – wie erwartet – hinten und vorn nicht reicht, da beide sehr gern und gut spielen. Ein Kammermusikprojekt war der Aufhänger, dass beide doch wöchentlich kamen. Was sich dann seltsamerweise doch problemlos realisieren liess… Ich bin froh und dankbar um meine neue Schülerin, aber es war ein klarer Fall von „Reinschmuggeln“. Hat man dann eine derart gute und interessierte Schülerin, schaut man auch nicht genau auf die Uhr und unterrichtet letztlich doch beide wie Vollzeitschüler. Also: entweder hart bleiben und die Stunde nicht ans Ende des Tages legen mit der Möglichkeit zu Überstunden, oder von Anfang an sehr aufpassen! Ansonsten ist diese Art des zweiwöchigen Unterrichts aber durchaus ein gangbarer Weg mit älteren Schülern, die interessiert sind und es gewohnt sind, eigenverantwortlich zu arbeiten. Ausserdem ist es eine Möglichkeit, mit langjährigen Schülern, die verständlicherweise vor dem Abitur weniger Zeit haben, noch ein Stück des Wegs gemeinsam zu gehen und sie in diesen Monaten noch bewusster als sonst ans eigenständige Üben und Nachdenken zu gewöhnen – in der Hoffnung, dass sie dann auch ohne Unterricht weiter spielen werden.
Und dann gibt es unweigerlich jeden Frühling ein oder zwei Anrufe von Abiturienten, die mit einem anderen Hauptfachinstrument Musik studieren wollen und die superschnelle, superintensive Vorbereitung für die Nebenfach-Aufnahmeprüfung brauchen. Manchmal ist es zum Haareraufen knapp, aber bisher war jede dieser Aktionen von Erfolg gekrönt und macht auch auf ihre Art unglaublich Spass. Natürlich ist man als Lehrer besonders gefordert: jeder bringt ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit. Einige spielen schon seit Jahren so gut Klavier, dass man von vornherein spürt, dass die gemeinsame Zeit ein Spaziergang wird. Häufiger ist die andere Sorte, die in kürzester Zeit einen extrem effizienten Unterricht verlangt. Hier braucht man ein sinnvolles, intensives Technikprogramm, das sich an den Vorkenntnissen orientiert und das Vorhandene trotzdem noch weiterentwickelt. Und egal, was für tolle Musiker das schon sind, wie erfahren und routiniert sie mit ihrem Hauptinstrument schon auftreten – ich lasse sie jede Stunde gnadenlos ihre ganz elementaren Übungen vorspielen. Indem ich zeige, wie viel Wert ich darauf lege, bekommt dieser Teil des Übens auch bei den Schülern einen anderen Stellenwert. Und spätestens, wenn sich nach drei, vier Wochen die ersten positiven Veränderungen in der Feinmotorik zeigen, muss ich keine Überzeugungsarbeit mehr leisten.
Bei Nebenfachleuten, die eher Anfänger auf dem Klavier sind, ist es sinnvoll, die Stücke für die Aufnahmeprüfung möglichst früh und möglichst überlegt auszuwählen. Die Anforderungen halten sich ja im Rahmen und lassen einem auch einen gewissen Gestaltungsspielraum, und so kann man je nach Interesse und Können für jeden passende Stücke finden. Selbst wenn sie am Anfang nur mit jeder Hand einzeln bewältigt werden können, ist es gut, parallel zu leichteren Stücken und dem Technikprogramm schon damit zu beginnen. Gut ist auch ein (eventuell schriftlicher) Countdown in Wochen, damit sowohl für den Schüler wie den Lehrer klar ist, wann diese Stücke spätestens komplett beherrscht werden sollten. Mindestens einen Monat vor dem Termin sollte alles in den Fingern sein, damit es sich setzen und noch weiter entwickeln kann – bei der Sorglosigkeit, mit der manche Schüler das Nebenfachinstrument behandeln, kann man da schon in zeitliche Bedrängnis kommen…
Wahrscheinlich muss man es nicht betonen, aber: genau so wichtig wie ein intensiver und wohlüberlegter Unterricht ist es für solche Schüler, ihnen zwei, drei Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen. Möglichst auch nicht zu zeitnah an der Aufnahmeprüfung, damit man in Ruhe über die Erfahrung sprechen und eventuelle Verbesserungsvorschläge umsetzen kann. Auch wenn die Diskrepanz im Niveau der Stücke meistens beträchtlich ist, ermutige ich solche Schüler auch immer, ihr kurzes Klavierprogramm in Vorspielabenden ihres Hauptfachlehrers zu präsentieren – je öfter, desto besser.
Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall: wenn Schüler von mir wirklich Hauptfach Klavier studieren wollen, ist es mir wichtig, dass sie parallel zu unserem Unterricht in den Monaten vor der Aufnahmeprüfung zusätzlich Unterricht bei einem Hochschullehrer nehmen und möglichst auch Vorspielabende oder Schnuppertage an der Hochschule besuchen, um sich selber besser einordnen zu können. Meistens findet der Unterricht ohnehin nur alle zwei Wochen statt und es gibt ja immer mehr als genug zu tun. Für die Schüler ist es interessant und spannend, plötzlich anders behandelt zu werden – nicht mehr mit Samthandschuhen und Nachsicht, wie sich das in einem jahrelangen Verhältnis, das zum Teil seit Kindesbeinen besteht, einschleichen kann. Und es schadet nicht, den Status als „Star“ der Schule oder der Klavierklasse zu hinterfragen. Es kann verstörend sein, doch die Einsicht, dass man nur einer von vielen ist und sich noch ganz schön anstrengen darf, um mithalten zu können, wirkt sich meistens sehr positiv auf die Arbeitshaltung aus. Was mich schmunzeln, aber ansonsten gelassen bleiben lässt, ist, wenn sie erzählen, dass dieser Lehrer ihnen genau die schlechten Angewohnheiten austreiben will, an denen ich seit Jahren dran bin. Manchmal sage ich nur: „Wirklich? Du? Weniger Pedal?“, und wir lachen. Die andere Autorität, die andere Ausdrucksweise helfen hier sehr, noch mehr aus dem Schüler heraus zu holen. Deshalb bin ich auch nur dankbar dafür und empfinde eine andere Sichtweise nicht als Einmischung, sondern als wichtige und nötige Vielfalt für den Schüler.
Welche Voraussetzungen sollten gegeben sein, damit die erwähnten Modelle des sporadischen Unterrichts Erfolg zeigen? Gerade wenn die Intervalle zwischen den Stunden grösser sind, sollte man sich als Lehrer optimal vorbereiten, um keine Minute zu verschwenden und immer alles schriftlich festhalten, damit man nahtlos dort weitermachen kann, wo man beim letzten Mal aufgehört hat. Die Literatur sollte den Anspruch erfüllen, gleichzeitig fordernd, aber auch allein zu bewältigen zu sein. Die anvisierten Ziele, wie weit man ein Stück einstudieren soll, dürfen gern etwas höher gegriffen sein, damit sich keine Gemütlichkeit breit macht. Wichtig ist auch das Angebot, immer in Kontakt zu bleiben – vielleicht treten doch unlösbare Fragen auf, und vieles lässt sich am Telefon klären oder schnell vorspielen, bevor der Schüler vielleicht zwei Wochen auf der Stelle tritt. Und: auch wenn die Schüler nicht Teil der regulären Klavierklasse sind, sollten sie genau so regelmässig auftreten wie die anderen, um Routine zu erlangen und von den Erfahrungen, die jeder Auftritt mit sich bringt, zu profitieren.
Und auch im übertragenen Sinn können wir von solchen gelegentlichen Stunden lernen: jede Begegnung mit unseren Mitmenschen sollte einen gewissen Stellenwert haben. Egal, ob es das erste Mal von vielen oder vielleicht das letzte oder einzige Mal ist – wir vergessen oft, wie kostbar und wertvoll zusammen verbrachte Zeit sein kann. Egal ob Unterrichtssituation oder richtiges Leben – etwas mehr von einer „carpe diem“ – Haltung würde uns allen nicht schaden.
Veröffentlicht in „Pianonews“ 4 /2013