Nach der unglaublichen und wohltuenden Erfahrung, in London nur zu tun, wozu ich Lust hatte, habe ich mich nach der Rückkehr mit Elan und Freude in die anfallende Hausarbeit gestürzt. Deshalb konnte ich es mir nun leisten, den letzten Feriennachmittag noch mal richtig zu geniessen. Beim Geräusch des strömenden Regens auf dem Dachfenster nahm ich Vita Sackville-Wests „Family History“ zur Hand. Wenn man einen neuen Autor kennen und schätzen lernt, will man ja sofort alles von ihm lesen. Ich habe mich bewusst zurückgehalten und mir ihre Romane eingeteilt, um jedem die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und natürlich auch, um den Genuss zu erhöhen. Die Goldbuchstaben auf dem orangen Leinenrücken von „Family History“ leuchten schon seit ein paar Wochen auf meinem Schreibtisch, und es ist nach wie vor ein grosses und besonderes Vergnügen für mich, so ein altes Buch, das zu Lebzeiten der Autorin gedruckt wurde, in die Hand zu nehmen.
Und von der ersten Seite an war es das erwartete Lesevergnügen wie bei allem, was ich von ihr bis jetzt gelesen habe. Es liest sich genau so mühelos und munter, wie sie auch geschrieben haben muss. Vita Sackville-West plaudert und erzählt so geistreich, dass es eine Freude ist und man nicht merkt, wie die Stunden verfliegen. Ich hatte irgendwo gelesen, dass es in dem Roman auch Anspielungen auf Sissinghurst gibt, das sie während der Entstehung des Romans gekauft und bezogen hatte. Aber auch ohne diesen Hinweis merkt man sofort, um was es gehen muss – eine Ruine irgendwo in Kent, die man mit dem Zug erreichen kann…
Wie gross war mein Vergnügen, hier in der behaglichen warmen Geborgenheit meines Zimmers noch mal den Weg dort hin nachzuerleben! Er entpuppte sich als langwieriger und abenteuerlicher als angenommen, und auch wenn mein Enthusiasmus zwischendurch einen kleinen Tiefstand erreichte, bin ich im Nachhinein sehr froh, dass ich mir nicht einfach ein Auto gemietet habe. Was sicherlich preiswerter und schneller gewesen wäre – aber es hätte mich darum gebracht, die Freuden des englischen Nahverkehrs hautnah zu erleben. Ich musste mehr als einmal schmunzeln, als die Romanfiguren sich mit der Bahn dem Schloss nähern – da hat sich seit 1932 praktisch nichts verändert.
„He asked her repeatedly what time the train was due, and swore every time it stopped at a station. He examined the Southern Railway map over the seat. (…) „I do hope it won’t be dark before we get there.“
Die Linie heisst jetzt Southeastern Railway und startet wie damals in Charing Cross. Halten tut der Zug immer noch alle paar Minuten. Ich hab nicht geflucht, ich fand das im Gegensatz sehr nett. Noch. Doch als sich die Anreise immer länger hinzog, hatte ich auch Angst. Nicht vor der Dunkelheit, so spät war es doch noch nicht, aber ob ich noch genug Zeit hätte, alles anzuschauen, bevor der Garten schliesst.
„Other motors drove away and the station yard became empty and silent.“
Da auf der Webseite von Sissinghurst ganz unkompliziert steht, dass von Staplehurst aus Busse und Taxis zum Schloss fahren, stieg ich voller Elan aus dem Zug und schaute mich auf dem kargen Bahnhofsvorplatz nach einer Bushaltestelle um. Die wenigen Mitreisenden wurden entweder abgeholt oder stiegen in ihre eigenen Autos auf dem gigantischen Parkplatz neben dem Bahnhof. Es gab noch ein paar verlassen aussehende kleinere Fabrikgebäude. Keinen Schalter, keinen Kiosk, kein Taxi, und bald auch keine Menschen mehr, die man hätte fragen können. Ich beschloss, der Strasse ein bisschen zu folgen – irgendwo musste dieser Bus doch fahren. Und richtig, weiter vorne war eine Kreuzung mit einer Autowaschstrasse, einem geschlossenen Café und einem windschiefen Bushäuschen inklusive Fahrplan. Der Bus fährt einmal pro Stunde – ich habe Glück, nur noch 25 Minuten! Juchu! Nachdem ich keine Lust mehr hatte, noch öfter auf der Strasse auf und ab zu gehen, setzte ich mich auf die querliegende Eisenstange, die in englischen Bushäuschen wohl die Bank darstellt, und ass zum Zeitvertreib meinen Apfel. Was mich so beschäftigte, dass ich leider vergass, ein Photo von dieser Kreuzung zu machen. Wirklich schade.
„She began to think that the castle was a surprisingly long way from the station.“
Indeed! Wenn die gute Vita das schon selber schreibt, könnten sie es auf ihrer ganz eigenen Webseite auch zitieren… Der Bus, der auffallend leer war, setzte mich eine Viertelstunde später im Ort Sissinghurst ab. Oder aus. Die Busfahrerin rief mir über die Schulter zu, dass sie mich einfach hier rauslässt, und dann soll ich immer links laufen. Nachdem Staplehurst so unbelebt und menschenleer war, war ich überzeugt, in Sissinghurst ein malerisches englisches Dorf vorzufinden, in dem an einem Samstagvormittag reges Leben herrscht und ich sicher irgendwo Wasser kaufen kann. Nachdem sich die Bustüren mit einem wuuusch geschlossen hatten, stand ich – mal wieder völlig allein – auf der T-Kreuzung, aus der Sissinghurst besteht. Malerisch – ja, Leben – nein. Es gab eine Kirche, aber keinen einzigen Laden und auch keinen sichtbaren lebendigen Menschen. Schon seltsam. Vom Internet wusste ich, dass das Schloss im Osten liegen muss, und trottete los. Irgendwann kamen mir Zweifel, ob ich noch richtig war oder nicht doch einen der Wege links hätte nehmen sollen. Aber – endlich – dort tauchten die schlanken rosanen Turmspitzen auf! Ich konnte es kaum fassen! Sie waren noch weit weg, das stimmt, aber ich hatte wenigstens einen Orientierungspunkt.
„This place seems to be quite away from the world. I didn’t know there were such uninhabited tracts in Kent.“
Und wieder kann ich nur aus ganzem Herzen zustimmen. Es gab zwar endlich ein Hinweisschild, aber dafür schien der Weg abseits der Landstrasse auf einer Art privater Zufahrtsstrasse jetzt erst richtig loszugehen… Aber es war wunderschön und romantisch, zwischen dichten Brombeerhecken zu laufen und kleine Häschen und Schafe aus nächster Nähe zu sehen. Ich hatte das Gefühl, mit allen Sinnen im Bilderbuch-England angekommen zu sein. Und letzlich sind es nur 30 Minuten zu Fuss vom Ort. Was mich die ganze Zeit wunderte, war die völlige Abwesenheit von Autos oder anderen Menschen. Den Garten hatte ich auch ziemlich für mich – der erste September ist für einen Besuch wirklich zu empfehlen.
Aber über Sissinghurst mehr ein anderes Mal, falls ich überhaupt Worte finde. Nur so viel: es war einer der glücklichsten Tage in meinem Leben, und jede Anstrengung bei der Anreise hat sich absolut gelohnt.
Und wenn man abends von der gleichen Busfahrerin als einer ihrer drei Fahrgäste empfangen wird mit den Worten: „Hello again, darling, back to the station?“, ist man froh, nicht einsam und abgeschottet in einem Mietwagen zu sitzen.
„Family History“ ist dieses Jahr unter dem Titel „Eine Frau von 40 Jahren“ neu aufgelegt worden. Die gebundene Ausgabe hat ein schönes Cover und ist in jeder Hinsicht als Weihnachtsgeschenk geeignet. Nach „All Passion Spent / Erloschenes Feuer“ hat mir dieser Roman von Vita Sackville-West am besten gefallen. Natürlich ist er zeitgebunden, und sie galt schon damals als altmodisch, aber für mich war es sehr interessant, die unterschiedlichen Strömungen in der Aristokratie der Dreissiger Jahre aus den Augen von jemand beschrieben zu sehen, der sich in genau diesen Kreisen bewegte: die Jarrolds, die ihren Reichtum und Status nie in Frage stellen würden, und Vane-Merrick, der soziale Verantwortung spürt und es sich zur Aufgabe macht, am System überhaupt etwas zu ändern. Und – Romantiker kommen auf ihre Kosten, wenn der Juli-Vollmond über dem Garten von Sissinghurst beschrieben wird!