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„Unwiderstehliche Genussadressen“

Ein Meer aus schaukelndem Wollgras; die dunkle Tanzfläche eines Sees, auf dem Mücken als winzige Goldpünktchen Polka proben; ein Heer von Regenbögen; in alten Schlossparks lustwandelnd der Melancholie entrinnen – ich klappe das Buch zu, um mich zu vergewissern: wirklich kein Gedichtband? Wirklich ein Reiseführer? Die beiden munter aufgerichteten Murmeltierchen auf dem Cover bestätigen: Franziska Lipps „Beste Aussichten im Salzburger Land“ ist ein Wander- und Reiseführer, aber einer, der ins Lyrik-Regal gehört. Oder wann ist es mir zum letzten Mal passiert, dass ich genussvoll Passagen aus einem Wanderführer noch mal gelesen habe, weil sie gar so charmant und phantasieanregend sind? Oder dass ich das Buch sogar mit ins Bett genommen habe, weil es so eine beruhigende und nette Lektüre für die Zeit zwischen Wachen und Träumen ist? Jakob Lipps ganzseitige stimmungsvolle Fotos bringen einen genau so zum Träumen wie die prägnanten, aber bilderreichen und poetischen Texte von Franziska auf der gegenüberliegenden Seite. Und man nimmt wunderschöne Impressionen von türkisen Schluchten, zauberhaften Eishöhlen, die nur von den Karbidlampen der Besucher beleuchtet werden, blühenden Almwiesen oder schattigen Arkaden mit in seine Träume. Und die Gewissheit: ein Tagesausflug in eins dieser unbekannten Kleinode muss bald mal drin sein…

Dass mich das Buch, dessen Werdegang übers letzte Jahr ich immer wieder hautnah mitbekommen habe, so begeistert, liegt natürlich auch daran, dass Franziska eine liebe Freundin ist, kennengelernt auf musikalischen und literarischen Umwegen. Und für mich als grossen Salzburg-Fan ist es natürlich was Besonderes, eine waschechte Salzburgerin zu kennen. Leider verfällt sie nur in Dialekt, wenn sie sich für etwas sehr begeistert oder in Rage redet – glücklicherweise ist das bei den Berichten über die Entstehung des Buches doch manchmal vorgekommen, denn dann finde ich sie immer besonders liebenswert. Und es ist einfach schön, von einer Einheimischen so viele besondere Tips zu bekommen, sei es live oder jetzt hier im Buch. Sie kennt und liebt die Gegend von Kindesbeinen an, wie sie im Vorwort selber schreibt, und das spürt man auf jeder Seite. Trotzdem ist es grade eine besondere Begabung, im Altvertrauten noch den Blick für das Ausgefallene und Erwähnenswerte zu haben, für kleine Details wie einen Wasserfall, der wie zarte Perlenschnüre über einen Felsen rieselt, oder grandios grosse wie den Grossglockner oder die Krimmler Wasserfälle, die sechs Mal so hoch wie die Niagarafälle sind. Überhaupt gefällt mir ihre Einteilung. Das kulinarische Kapitel mit dem Titel „Unwiderstehliche Genussadressen“ ist echt Franziska, ebenso die Idee, mystischen Glücksplätzen oder Orten mit Wasser in irgendeiner besonderen Form eigene Kapitel zu widmen. Eine so ganz andere Einteilung, als man es von „normalen“ Reiseführern kennt, die einen ungewöhnlichen roten Faden durchs Salzburger Land zieht.

Was mir immer wieder auffällt, wenn ich dort bin, oder eben hier in dem Buch: die ÖsterreicherInnen scheinen eine ausgeprägtere Genussfähigkeit zu haben als wir. Entweder sind sie generell begabter dafür, oder sie verstehen es besser, sich Zeit für die schöneren Dinge des Lebens zu nehmen. Wortschöpfungen wie „einspurige Verlockung“ (es geht hier um eine kleine Museumsbahn…), die „Versuchung des ersten Bissens“ oder „absolute Suchtgefahr“ scheinen eher einer entspannten, die Kreativität anregenden Stimmung entsprungen zu sein als einer korrekt und arbeitsam am Schreibtisch sitzenden Haltung. Und wo sonst auf der Welt bitte gibt es Strandkörbe wie auf der Seeterrasse des Schloss Fuschl, die auch im Winter bei Eis und Schnee „absolute Diskretion für ein kuscheliges Tête-à-tête zu zweit“ bieten?

Apropos „zu zweit“: ein weiteres nettes Detail an diesem Reiseführer ist, dass Franziska in Teamarbeit mit ihrem Mann, der alle Fotos aufgenommen hat, diese ganzen Orte bereist und erfahren hat. Welches Ehepaar kann schon von sich behaupten, in etwas mehr als einem Jahr 66 Ausnahmeorte und elf Almen besucht zu haben? Das Buch ist also gleichzeitig ein Dokument eines ganz ausgefallenen und speziellen gemeinsamen Lebensjahres, und das finde ich beeindruckend und wunderschön. Wenn das so weitergeht, wird die Fotoeckenindustrie nicht viel Umsatz mit den beiden machen…

Lyrischer Genuss hin oder her: „Beste Aussichten im Salzburger Land“ weckt definitiv die Abenteuerlust und ich ertappe mich dabei, wie ich ständig zu der Karte am Schluss blättere und überlege, wann ich wo hinfahre. Das handliche A5-Format, die abgerundeten Ecken, die Eselsohren im Rucksack vermeiden, die kurzen Texte, denen Telefonnummern und Webseiten direkt beigefügt sind, machen das kleine Juwel zu einem alltagstauglichen Nachschlagewerk. Und, geneigte Leserinnen und Leser, zum Geburtstagsgeschenk des Jahres, wenn man einigermassen in Grenznähe wohnt – vielleicht zusammen mit einem Gutschein für einen unvergesslichen Ausflug nach Wahl?

Franziska Lipp, Beste Aussichten im Salzburger Land, Gmeiner Verlag, 15 Euro

(alle Abbildungen, auch hier: Jakob Lipp)

 

Jetzt

In der Krypta des Salzburger Doms gibt es eine Installation von Christian Boltanski: ein Todesengel kreist als Schatten über die Wände, und gleichzeitig ertönt eine automatische Zeitansage in einer Dauerschleife. Man braucht etwas, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen, wird dann aber regelrecht eingelullt von der Schattenfigur, die sich langsam bewegt, und der monotonen Zeitansage. Wahrscheinlich wollte uns der Künstler in unmittelbarer Nähe der vielen jahrhundertealten Bischofsgräber eindringlich an unsere eigene Endlichkeit und die unaufhörlich verrinnende Lebenszeit erinnern. Aber seltsamerweise löste die ständige Zeitansage in mir genau das Gegenteil aus: “ beim nächsten Ton ist es – dreizehn Uhr zweiundfünzig und – 20 Sekunden.“ Ja, und das ist wunderbar. Es ist dreizehn Uhr zweiundfünzig, ich bin in Salzburg und habe noch einen ganzen freien Nachmittag vor mir. Diese paar Sekunden der Ansage dehnten sich für mich in einen gigantischen Jetzt-Augenblick. Ich spürte so stark wie selten, dass ich genau jetzt lebe, nur jetzt in diesem Augenblick, und dass das Vorher oder Danach überhaupt nicht interessiert.

Und seltsamerweise zog sich die Erinnerung an diese völlig simple, aber eindringliche Stimme noch durch die folgenden Tage. Ich konnte nicht umhin, mir Uhrzeiten, die ich irgendwo ablas oder durch Schul- oder Kirchenglocken hörte, so langsam und mechanisch vorzusagen und spürte immer, dass ich JETZT lebe. Kurz nach dem Dombesuch sassen wir in einem altmodischen Kaffeehaus, bei traumhafter Torte und Mélange, und als sich zur grossen Uhr im Café hochschaute, dachte ich: “ es ist vierzehn Uhr zwanzig, ich lebe und möchte nirgendwo anders sein.“ Und dieses wunderbare Bewusstsein hält seit Tagen an. Vielleicht war es das, was Boltanski wollte? Nicht, dass wir daran denken, dass unsere Zeit abläuft, sondern dass wir ganz intensiv spüren, dass wir in der Zeit und mit ihr leben? Und eben – überhaupt leben?

Ausflug nach Kleinasien

Als wir in der Schule über Alexander den Grossen gesprochen haben, muss ich die ganze Zeit unter der Bank Schiffleversenken gespielt haben – bis auf den dummen Merkspruch zur Schlacht bei Issos verbinde ich nichts mit ihm. Letzten Winter hatte ich ja seltsame Gelüste, Agatha-Christie-artig auf dem Landweg nach Mesopotamien zu reisen und deswegen in der Bücherei Bildbände über die Gegend ausgeliehen. Und festgestellt, dass Persien auch ganz faszinierend ist. Die Ruinen von Persepolis haben mich besonders berührt, die Säulen mitten in der Wüste, die wunderbar feinen Reliefs… Und natürlich kommt man bei so einer Lektüre nicht am Namen dessen vorbei, der diese alte Königssstadt schon vor Jahrtausenden zerstört hat.

Kurioserweise hat der Lokschuppen Rosenheim jetzt eine grosse Ausstellung über diesen selbstbewussten und risikofreudigen Feldherrn konzipiert – ich weiss nicht genau, ob und welche Verbindung es von hier nach Kleinasien gibt… Alexander als Krieger und Landeroberer interessierte mich nicht so sehr. Und die Parallelen zu anderen grössenwahnsinnigen Machthabern des 20. Jahrhunderts sind zu beunruhigend.
Trotzdem wollte ich die Ausstellung sehen, da zahlreiche archäologische Fundstücke aus der Zeit angekündigt waren, zusammengetragen von Museen aus ganz Europa: München und Berlin ebenso wie Paris, das British Museum oder das Ashmolean in Oxford. Das alles an einem Ort betrachten zu können, rechtfertigt den happigen Eintrittspreis, bei dem ich erst schluckte – an der Ausgangstür, ganz erfüllt und gebannt von allem, was ich hatte sehen dürfen, dachte ich nur: unglaublich, das war es mindestens wert.

Ich bin einfach mehr als glücklich, wenn ich vor jahrtausendealten persischen Trinkgefässen stehe, wunderschönen Goldschmuck aus Babylon sehe und mich von winzigen Keilschrifttafeln oder Rollsiegeln nur eine Glasschicht trennt. Schon ein einziges solches Stück könnte mich völlig verzaubern wegen der Geschichten, die sich darum ranken. Und dann so eine Fülle! Und: ich bin vor so einem Relief aus Persepolis gestanden! Hier, eine halbe Stunde vor der Haustür! Was es natürlich auch in Hülle und Fülle gab, waren Helme, Rüstungsteile, Speerspitzen, bei denen mich wunderte, wie gut sie erhalten waren. Ein Ausschnitte aus dem Alexander-Film von Oliver Stone zeigte eindringlicher als jedes Geschichtsbuch und jede Vasenmalerei, wie unfassbar brutal die Kriegsführung mit Bogenschützen und Streitäxten im Nahkampf war (das kam mir vor wie im Klavierunterricht: eine halbe Minute vorspielen, eine halbe Minute Film hinterlässt einen bleibenderen Eindruck als viele Worte.)

Ein kleines Detail zu Alexander hab ich auch gelernt: er hat am gleichen Tag Geburtstag wie ich. Da sieht man mal wieder, dass an astrologischer Charakterdeutung nicht viel dran sein kann. Ausser einer gewissen Reiselust sind wir uns nicht sehr ähnlich – ich hatte noch nie Anwandlungen, in Kleinasien einzufallen, und meine Überzeugung, dass es ein „genug“ gibt, hat er ganz offensichtlich nicht geteilt…

Also: wer in der Region wohnt, sich nicht scheut, 13 Euro zu investieren und vielleicht auch ein bisschen aus dem Geschichtsunterricht nachholen muss, dem sei die Ausstellung in Rosenheim ans Herz gelegt. Es ist ein angenehmes Nachsitzen, und es ist noch bis zum 3. November möglich.

(Abbildungen: http://www.cais-soas.com/CAIS/Images2/Achaemenid/Persepolis/persepolis_apadana3.jpg

http://www.lokschuppen.de/alexander-der-grosse/ausstellungsfotos.html

Vom Inn an den Main

… und in die eigene Vergangenheit. Ich hatte das grosse Glück, in einer wunderschönen Stadt zu studieren und die ersten Berufserfahrungen zu sammeln, in der ich weder geboren noch aufgewachsen bin und in der ich jetzt auch nicht mehr lebe. So bleibt sie für alle Zeiten der Ort, an dem ich mich immer frei und glücklich gefühlt habe, so vieles zum ersten Mal erlebt oder probiert habe, jung und voller Idealismus war. Eine Insel der Seligen irgendwie. Und das erstaunliche ist: dieser Ort ist und bleibt wunderbar für mich. Kaum bin ich dort, kommen diese Gefühle wieder. Ich fühle mich schlagartig um 20 Jahre jünger, neugieriger und wacher als wo anders. Meine Beine erinnern sich an das Tempo, in dem ich damals – autolos und ständig auf dem Weg zu irgendwelchen Terminen – durch die Stadt gelaufen bin. Definitiv ein anderes Tempo, als wenn ich hier am Inn entlang in die Stadt schlendere und nach dem Eisvogel Ausschau halte.

Diesmal bin ich zum ersten Mal im Leben in Würzburg Auto gefahren. Unglaublich eigentlich! Es war ein gutes Gefühl, sich der Stadt in meinem kleinen Auto zu nähern, das ich mir dank meines Studiums hier komplett selber erarbeitet habe. Wer hätte das damals gedacht, mit diesem brotlosen Konzertfach-Klavier-Studium… Auch sonst ist unser Lebensstandard so anders jetzt: für meine ehemalige Mitstudentin und mich war klar, dass wir in ein feines Hotel gehen wollten, mit Wellness-Bereich und allen Schikanen. Damals haben wir so anders gelebt! Nicht gerade ärmlich, denn als Musikstudenten hatten wir von Anfang an die Möglichkeit, mit Mucken und anderen Jobs ganz gut zu verdienen, aber doch bewusster und einfach auf einem bescheideneren Niveau als heute. Ich habe mich daran erinnert, dass ich immer freitag nachmittags noch eine Schülerin hatte, von der ich damals fünfzehn Mark für die Stunde bekam. Damit kaufte ich danach meine Lebensmittel für die ganze Woche: Milch, zwei grosse Gläser Joghurt, Knäckebrot, Obst und Gemüse. Und es war gar nicht wichtig, mehr Geld zu verdienen als ich brauche – meine Bedürfnisse und Möglichkeiten haben sich gedeckt. Was für ein seliger Zustand. Damals war mir gar nicht bewusst, wie reich ich bin.

Meine Wohnung war kleiner als jetzt und im Nu geputzt, die Nebenkosten absolut überschaubar, meine paar Kleider hingen übersichtlich auf einer Stange, weil ich keinen Schrank wollte. Dafür war das Leben angefüllt mit sinnvoller Beschäftigung, ganz viel Klavierspielen oder Musizieren mit anderen, Stunden in der Bibliothek, ständigem echtem Kontakt mit Menschen. Und jetzt? Brauche ich allein zwei Tage, um nur die Fenster zu putzen. Muss mich bemühen, dem Klavier so weit Priorität einzuräumen, dass ich am Tag wenigstens eine Stunde zum Üben komme. Sehe meine Freunde kaum noch in echt, weil jeder genau so beschäftigt ist wie ich und wir weit auseinander wohnen. E-Mails oder Anrufbeantworter-Nachrichten haben das Teetrinken im Brückenbäck abgelöst. Eigentlich eine traurige Entwicklung, aber es scheint allen gleich zu gehen.

Um so schöner ist es, wenn man sich dann ein Wochenende lang in echt sehen kann und feststellt: es ist nicht nur die Stadt, die den Zauber ausübt, sondern auch die Kontakte von früher. Es war so schön, die beiden Freundinnen zu sehen und festzustellen, dass sie sich über zwanzig Jahre hinweg treu geblieben sind. Und dass wir uns mögen und so viel zu sagen haben wie am ersten Tag – es war, als ob wir uns gestern zum letzten Mal gesehen hätten. Und letztlich sind es die Menschen, mit denen wir einen gewissen Lebensabschnitt verbracht haben, die die Erinnerungen in uns lebendig werden lassen: nicht die Strassen oder die alten Wohnungen, sondern die vielen „weisst du noch“ und das gemeinsame Lachen. Oder das wortlose Sich – Anschauen und Verstehen, wenn einem nicht zum Lachen zumute ist.

Die Tage in meiner alten Studentenstadt haben mich wieder daran erinnert, was mir mal wichtig war im Leben und was in diesem braven, korrekten Doppelhaus-Vorstadtleben manchmal verschüttet wird: Freundinnen treffen ist wichtig, Musikmachen ist wichtig, entspannt Kaffee trinken auch. Und nicht: Arbeiten bis zum Umfallen oder sinnlos Geld scheffeln, weil man vielleicht irgendwann Rücklagen brauchen könnte. Das Leben findet jetzt statt.

Vom Inn an die Themse: „A surprisingly long way from the station“ – Sissinghurst

Nach der unglaublichen und wohltuenden Erfahrung, in London nur zu tun, wozu ich Lust hatte, habe ich mich nach der Rückkehr mit Elan und Freude in die anfallende Hausarbeit gestürzt. Deshalb konnte ich es mir nun leisten, den letzten Feriennachmittag noch mal richtig zu geniessen. Beim Geräusch des strömenden Regens auf dem Dachfenster nahm ich Vita Sackville-Wests „Family History“ zur Hand. Wenn man einen neuen Autor kennen und schätzen lernt, will man ja sofort alles von ihm lesen. Ich habe mich bewusst zurückgehalten und mir ihre Romane eingeteilt, um jedem die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und natürlich auch, um den Genuss zu erhöhen. Die Goldbuchstaben auf dem orangen Leinenrücken von „Family History“ leuchten schon seit ein paar Wochen auf meinem Schreibtisch, und es ist nach wie vor ein grosses und besonderes Vergnügen für mich, so ein altes Buch, das zu Lebzeiten der Autorin gedruckt wurde,  in die Hand zu nehmen.

Und von der ersten Seite an war es das erwartete Lesevergnügen wie bei allem, was ich von ihr bis jetzt gelesen habe. Es liest sich genau so mühelos und munter, wie sie auch geschrieben haben muss. Vita Sackville-West plaudert und erzählt so geistreich, dass es eine Freude ist und man nicht merkt, wie die Stunden verfliegen. Ich hatte irgendwo gelesen, dass es in dem Roman auch Anspielungen auf Sissinghurst gibt, das sie während der Entstehung des Romans gekauft und bezogen hatte. Aber auch ohne diesen Hinweis merkt man sofort, um was es gehen muss – eine Ruine irgendwo in Kent, die man mit dem Zug erreichen kann…

Wie gross war mein Vergnügen, hier in der behaglichen warmen Geborgenheit meines Zimmers noch mal den Weg dort hin nachzuerleben! Er entpuppte sich als langwieriger und abenteuerlicher als angenommen, und auch wenn mein Enthusiasmus zwischendurch einen kleinen Tiefstand erreichte, bin ich im Nachhinein sehr froh, dass ich mir nicht einfach ein Auto gemietet habe. Was sicherlich preiswerter und schneller gewesen wäre – aber es hätte mich darum gebracht, die Freuden des englischen Nahverkehrs hautnah zu erleben. Ich musste mehr als einmal schmunzeln, als die Romanfiguren sich mit der Bahn dem Schloss nähern – da hat sich seit 1932 praktisch nichts verändert.

„He asked her repeatedly what time the train was due, and swore every time it stopped at a station. He examined the Southern Railway map over the seat. (…) „I do hope it won’t be dark before we get there.“

Die Linie heisst jetzt Southeastern Railway und startet wie damals in Charing Cross. Halten tut der Zug immer noch alle paar Minuten. Ich hab nicht geflucht, ich fand das im Gegensatz sehr nett. Noch. Doch als sich die Anreise immer länger hinzog, hatte ich auch Angst. Nicht vor der Dunkelheit, so spät war es doch noch nicht, aber ob ich noch genug Zeit hätte, alles anzuschauen, bevor der Garten schliesst.

„Other motors drove away and the station yard became empty and silent.“

Da auf der Webseite von Sissinghurst ganz unkompliziert steht, dass von Staplehurst aus Busse und Taxis zum Schloss fahren, stieg ich voller Elan aus dem Zug und schaute mich auf dem kargen Bahnhofsvorplatz nach einer Bushaltestelle um. Die wenigen Mitreisenden wurden entweder abgeholt oder stiegen in ihre eigenen Autos auf dem gigantischen Parkplatz neben dem Bahnhof. Es gab noch ein  paar verlassen aussehende kleinere Fabrikgebäude. Keinen Schalter, keinen Kiosk, kein Taxi, und bald auch keine Menschen mehr, die man hätte fragen können. Ich beschloss, der Strasse ein bisschen zu folgen – irgendwo musste dieser Bus doch fahren. Und richtig, weiter vorne war eine Kreuzung mit einer Autowaschstrasse, einem geschlossenen Café und einem windschiefen Bushäuschen inklusive Fahrplan. Der Bus fährt einmal pro Stunde – ich habe Glück, nur noch 25 Minuten! Juchu! Nachdem ich keine Lust mehr hatte, noch öfter auf der Strasse auf und ab zu gehen, setzte ich mich auf die querliegende Eisenstange, die in englischen Bushäuschen wohl die Bank darstellt, und ass zum Zeitvertreib meinen Apfel. Was mich so beschäftigte, dass ich leider vergass, ein Photo von dieser Kreuzung zu machen. Wirklich schade.

„She began to think that the castle was a surprisingly long way from the station.“

Indeed! Wenn die gute Vita das schon selber schreibt, könnten sie es auf ihrer ganz eigenen Webseite auch zitieren… Der Bus, der auffallend leer war, setzte mich eine Viertelstunde später im Ort Sissinghurst ab. Oder aus. Die Busfahrerin rief mir über die Schulter zu, dass sie mich einfach hier rauslässt, und dann soll ich immer links laufen. Nachdem Staplehurst so unbelebt und menschenleer war, war ich überzeugt, in Sissinghurst ein malerisches englisches Dorf vorzufinden, in dem an einem Samstagvormittag reges Leben herrscht und ich sicher irgendwo Wasser kaufen kann. Nachdem sich die Bustüren mit einem wuuusch geschlossen hatten, stand ich – mal wieder völlig allein – auf der T-Kreuzung, aus der Sissinghurst besteht. Malerisch – ja, Leben – nein. Es gab eine Kirche, aber keinen einzigen Laden und auch keinen sichtbaren lebendigen Menschen. Schon seltsam. Vom Internet wusste ich, dass das Schloss im Osten liegen muss, und trottete los. Irgendwann kamen mir Zweifel, ob ich noch richtig war oder nicht doch einen der Wege links hätte nehmen sollen. Aber – endlich – dort tauchten die schlanken rosanen Turmspitzen auf! Ich konnte es kaum fassen! Sie waren noch weit weg, das stimmt, aber ich hatte wenigstens einen Orientierungspunkt.

„This place seems to be quite away from the world. I didn’t know there were such uninhabited tracts in Kent.“

Und wieder kann ich nur aus ganzem Herzen zustimmen. Es gab zwar endlich ein Hinweisschild, aber dafür schien der Weg abseits der Landstrasse auf einer Art privater Zufahrtsstrasse jetzt erst richtig loszugehen… Aber es war wunderschön und romantisch, zwischen dichten Brombeerhecken zu laufen und kleine Häschen und Schafe aus nächster Nähe zu sehen. Ich hatte das Gefühl, mit allen Sinnen im Bilderbuch-England angekommen zu sein. Und letzlich sind es nur 30 Minuten zu Fuss vom Ort. Was mich die ganze Zeit wunderte, war die völlige Abwesenheit von Autos oder anderen Menschen. Den Garten hatte ich auch ziemlich für mich – der erste September ist für einen Besuch wirklich zu empfehlen.

Aber über Sissinghurst mehr ein anderes Mal, falls ich überhaupt Worte finde. Nur so viel: es war einer der glücklichsten Tage in meinem Leben, und jede Anstrengung bei der Anreise hat sich absolut gelohnt.

Und wenn man abends von der gleichen Busfahrerin als einer ihrer drei Fahrgäste empfangen wird mit den Worten: „Hello again, darling, back to the station?“, ist man froh, nicht einsam und abgeschottet in einem Mietwagen zu sitzen.

„Family History“ ist dieses Jahr unter dem Titel „Eine Frau von 40 Jahren“ neu aufgelegt worden. Die gebundene Ausgabe hat ein schönes Cover und ist in jeder Hinsicht als Weihnachtsgeschenk geeignet. Nach „All Passion Spent / Erloschenes Feuer“ hat mir dieser Roman von Vita Sackville-West am besten gefallen. Natürlich ist er zeitgebunden, und sie galt schon damals als altmodisch, aber für mich war es sehr interessant, die unterschiedlichen Strömungen in der Aristokratie der Dreissiger Jahre aus den Augen von jemand beschrieben zu sehen, der sich in genau diesen Kreisen bewegte: die Jarrolds, die ihren Reichtum und Status nie in Frage stellen würden, und Vane-Merrick, der soziale Verantwortung spürt und es sich zur Aufgabe macht, am System überhaupt etwas zu ändern. Und – Romantiker kommen auf ihre Kosten, wenn der Juli-Vollmond über dem Garten von Sissinghurst beschrieben wird!

Vom Inn an die Themse: Oasen

Goodenough College
Goodenough College

Mit London ist es wie mit vielen anderen Dingen im Leben: wenn man mit anderen Leuten drüber redet, hat man das Gefühl, man spricht über völlig verschiedene Städte. Was wir in einem Buch, einem Musikstück, einer Stadt oder einer Landschaft sehen, hat viel damit zu tun, wo wir selber herkommen oder auch: was wir bereit sind, zu sehen. Ich habe bewusst gar nichts mitgekriegt von moderner Architektur oder Kunst oder dem quirligem Eastend und alles, was mit der königlichen Familie oder der Olympiade zusammenhängt, vermieden. Die meisten der üblichen Touristenattraktionen habe ich nicht besucht, und ich bin auch nicht am Südufer der Themse gelaufen, um St.Paul und den Tower von dort aus zu bewundern. Was ich von London gesehen habe, war alles elegant, wunderschön, altmodisch. Als wäre die Zeit vor vielen Jahrzehnten stehengeblieben. Mir ist klar, dass es auch ganz andere Ecken gibt. Aber ich hatte das Gefühl, dass sie im Gegensatz zu anderen Grossstädten nicht so ins Auge stechen.

Vielleicht hatte ich auch zu sehr eine rosa Brille auf – ein Ausdruck, der aus der Zeit der Viktorianer stammt, wie ich in einer Ausstellung in der Tate Gallery erfuhr – aber „mein“ London war unglaublich beschaulich und entspannt. Es begann schon in meinem kleinen und feinen Hotel, dem Club des „Goodenough College“. Zum opulenten Frühstück mussten wir über den Platz ins College gehen und sassen dort im grossen vertäfelten Speisesaal, der ruhig und leer war. Im College konnte ich im Anschluss ans Frühstück üben – es tut gut, seine Morgenroutine auch im Urlaub beizubehalten, und es macht Spass, das in einem ehrwürdigen Raum, an einem schönen Flügel und mit einem Photo der Queen über dem Kaminsims zu tun. Manchmal habe ich mich nicht gleich in die Stadt gestürzt, sondern in aller Ruhe Briefe geschrieben und zum Postamt an der Marchmont Street gebracht – wie in meinem Studentenleben in Würzburg, mit allen Läden vor der Haustür. Einmal war ich vormittags, ein paar Minuten vom College, im wunderbaren Persephone Bookstore, einem der Gründe für meine Reise, und holte wie jeden Tag auf dem Rückweg im kleinen Supermarkt eine Flasche Wasser und zwei Äpfel. Die Lamb’s Conduit Street, die der Buchladen mit seinen hellblauen Fensterrahmen und Petunienkästen davor ziert, ist übrigens eine der hübschesten Strassen in London. Keine einzige Kette (bis auf den Supermarkt), lauter nette kleine individuelle Läden, nette Cafés und Pubs… Sehr zu empfehlen für einen Bummel abseits der ausgetretenen Pfade.

Natürlich gab es Museen, die ich schon jahrelang besuchen wollte – die Tate Gallery stand ganz oben auf der Liste und auch die National Portrait Gallery. Für Menschen mit Durchhaltevermögen ist das Victoria & Albert-Museum ein Paradies. Das British Museum hat mich dann aber doch überfordert – der monumentale Bau erschlägt einen schon fast, und die Fülle der ausgestellten Objekte ist doch etwas zu viel des Guten. In den meisten Museen hatte ich das Gefühl, fast allein zu sein, was wirklich erstaunlich ist. Entweder bin ich völlig antizyklisch hingegangen, oder die Leute stapelten sich bei den Paralympics. Oder – was mir wahrscheinlicher erscheint – es entsteht bei vielen der Eindruck „was keinen Eintritt kostet, kann nichts wert sein.“ Ich war auf jeden Fall erstaunt und beglückt, dass ich alle Gemälde in Seelenruhe anschauen konnte und meistens auch ein ganzes Ledersofa für mich hatte, wenn ich mich länger in ein Bild versenken wollte. Und die diversen Museumscafés waren auch leer und gemütlich – eine feine Einrichtung!

Die Krönung des entschleunigten Reisens war eine Themseschifffahrt, auf die ich nur durch Zufall aufmerksam geworden bin. Ich wollte in den Botanischen Garten nach Kew und sah, dass eine Gesellschaft Fahrten mit Ausflugsbooten anbietet. 90 Minuten für 10 Meilen – da bin ich doch sofort dabei!! Am Westminster Pier drängten sich die Menschenmassen, wie ich nicht anders erwartet hatte. Aber ich durfte an allen vorbei gehen – Towerrundfahrt für ein Heidengeld, London mit James Bond, was weiss ich für Quatsch zu Wasser. Die Thames River Boats hatten den letzten Ableger, und ich musste schon zwei Mal hinschauen: kein Mensch war da, das Schiffchen war eine graziöse altmodische Nussschale, und der Kapitän selbst gab mir die Hand zum Einsteigen: „watch your step, dear“. Letzlich waren wir 12 Passagiere, alles Engländer ausser mir, und da der Wind etwas kühl blies, begaben wir uns bald nach der Abfahrt alle in den rosa Salon. Erst nachdem das Barmädchen dem Kapitän seinen Becher Tee gebracht hatte, war sie für uns da. Buchstäblich jeder holte sich seinen Tee mit Milch. Ich liebe diese Angewohnheit! Und dieses plötzliche auf engem Raum zusammengewürfelt – sein hatte was Agatha-Christie-Haftes. Und so schipperte uns die „Princess Freda“, 1926 erbaut, gemächlich nach Kew, immer gegen die Ebbe ankämpfend, was sich laut Kapitän anfühlt, als würde man ständig bergauf fahren.

Auf Kew Gardens kam ich, wie kann es anders sein, durch die verehrte Virginia, die sehr gern hier her kam und den Garten auch in „Orlando“ erwähnt. Und recht hat sie. Es ist zwar alles äusserst ordentlich und zu gepflegt, aber allein die grossen viktorianischen Palmenhäuser sind den Besuch wert. Nach der seidigen weichen Luft, die mich an London so faszinierte, schlägt einem eine richtig schwüle, feuchte Atmosphäre entgegen, die einen nach ein paar Sekunden an seinem Schal nesteln lässt. Von der Decke und den Palmen tropft es, und man ist wirklich schlagartig in einer anderen Klimazone. Besonders gefallen hat mir das Seerosenhaus, ein eher kleines, wunderschön bewachsenes Häuschen. Um den grossen runden Teich mit den Hauptattraktionen wanden sich verschiedene blühende tropische Schlingpflanzen, zum Teil mit Melonen und Passionsfrüchten daran. Die verschwenderische Üppigkeit und Farbenpracht waren ein willkommenes Gegengewicht zu den sehr ordentlichen Grünflächen draussen.

 

Vom Inn an die Themse: London

Seit über 20 Jahren träume ich davon, nach England zu fahren. Bei jedem Gartenbuch, bei jedem Roman, den ich in der Zeit gelesen habe, habe ich mir im Kopf Notizen gemacht, dass ich diese Orte sehen muss. Langsam wurde die Liste so lang und die Vorfreude so unerträglich, dass ich in den faulen Augusttagen dachte: entweder ich verbringe noch mal drei Wochen hier auf dem Liegestuhl und lese englische Romane, oder ich fahre in Gottes Namen endlich hin.

Gesagt, getan. Was mich immer abgehalten hat, war die vermeintliche Entfernung. Aber wie oft waren wir in der Zeit in Rom oder Neapel und haben geduldig die 10 Stunden im Zug auf uns genommen? Ich glaube, es war auch eine Denkbarriere wegen dem Wasser dazwischen. Doch dank Kanaltunnel ist auch das keine Affäre mehr. Ich hatte mir zwar immer ausgemalt, wie ich ganz klassisch mit dem Schiffchen nach Dover oder Newhaven übersetzen würde, aber wenn man nur sieben Tage unterwegs ist, ist das doch zu aufwendig. Ein kleiner Traum bleibt also.

Der Fahrkartenkauf barg auch unerwartete Freuden: ich weiss nicht, ob ich mich mehr über mein ausgedrucktes Ticket „Ebersberg (Oberbayern) – London St Pancras International“ amüsieren soll oder über die Aussprache des sehr kompetenten und besorgten Wasserburger Bahnbeamten, der meinte: „du willst doch net mitten in der Nacht in St. Pankraz ankommen!“. Mit Hilfe des heiligen Pankraz fuhr ich also zu einer annehmbaren Zeit wohlbehalten in London ein, lief die zehn Minuten im Dämmerlicht zu meinem Hotel in Bloomsbury und musste sofort, nachdem ich mein Gepäck abgelegt hatte, durch das Viertel spazieren.

Ich wohnte am Mecklenburgh Square 25, Virginia Woolf in Hausnummer 37 – die erste Stätte meiner Pilgerreise war nicht mal einen Katzensprung von meiner Haustür, und ich muss sagen, das ist schon seltsam. Sich vorzustellen, wie sie auf den gleichen Park blickte, abends im Laternenlicht noch mal mit ihren Hunden Grizzle und Pinker ging, die gleichen alten Häuser sah und die gleiche Ruhe in der Nacht genoss… Und weiter, ein paar Minuten, zum Tavistock Square, wo sie in den 20er Jahren sehr lange lebte und die meisten ihrer Romane schrieb. Wieder alte Häuserzeilen, altes Pflaster, zum Teil menschenleere Strassen, viele Parks, manchmal berittene Polizei, die langsam vorbeiklapperte. Ich fühlte mich wie in eine andere Zeit versetzt. Charles Dickens hat einen etwas grösseren Katzensprung von meinem Hotel auf der anderen Seite gewohnt (kein Witz!), und dort gab es eher enge, funzelig beleuchtete Gassen, Hinterhöfe und kleine Backsteinhäuser – keine eleganten, hohen Stadthäuser mehr, sondern alles etwas einfacher, aber so stimmungsvoll, dass es auch einer Zeitreise glich.

Dieser erste dämmrige Abendspaziergang war tonangebend für den Rest des Aufenthalts. Ich lief völlig entspannt und wie im Traum und mit dem Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben und gar nichts zu müssen. Ohne Uhr, ohne Stadtplan, ohne Geldbeutel oder Ausweis (äh, wie naiv ist das? Ist mir aber erst nach einer Stunde aufgefallen…). Trotzdem mit dem seltsamen Gefühl, mich auszukennen und wirklich keinen Stadtplan zu brauchen. Hab ihn ja lang genug studieren können im Zug. Was auffällt: die Hälfte von Bloomsbury scheint aus Gärten und Parks zu bestehen, mal private wie der meines Hotels, für den man einen Schlüssel braucht, mal öffentliche. Man hat das Gefühl, ständig an Grünflächen vorbeizugehen und muss sich manchmal bewusst vorsagen, dass man sich mitten in einer Millionenstadt befindet.

Und so habe ich mich trotz Wochenkarte in den nächsten Tagen hauptsächlich zu Fuss durch London fortbewegt. Ich glaube, ich bin noch nie im Leben so viel gelaufen! Aber auch selten so entspannt und so wach mit allen Sinnen. Es ist einfach schöner, sich oberirdisch zu bewegen und mehr von der Stadt mitzukriegen. Natürlich musste ich – aus Pilgergründen – ein paar Mal die 175 Stufen zur U-Bahn-Station Russell Square runtersteigen. Es gibt jetzt zwar drei moderne Aufzüge, in die je 50 Personen passen, aber es ist doch viel netter, vorbei an Jugendstilkacheln, die einem den Weg weisen, eine enge, zugige Wendeltreppe in die Unterwelt hinunterzusteigen. Virginia Woolf war zwar eine grosse Stadtspaziergängerin, ist aber verbürgtermassen oft an dieser „unserer“ Haltestelle eingestiegen und widmet dem Klang des Namens sogar längere Überlegungen in einem Essay übers Schreiben. Dass ich den Aufsatz zum ersten Mal im Leben jetzt in London abends im Hotel las, ein paar Minuten von dem Ort entfernt, wo er geschrieben wurde, ist doch wunderbar.

Vom Inn an die Adria: Duino

Seit vielen, vielen Jahren möchte ich den Ort sehen, an dem Rilke zu seinen „Duineser Elegien“ inspiriert wurde. Wenn man hohe Erwartungen an eine solche Stätte hat, ist es oft der Fall, dass man enttäuscht abreist und gar nicht versteht, worin der Zauber bestehen soll. In Rilkes Fall war, abgesehen von der traumhaften Lage, sicher ausschlaggebend, dass er dank der Grosszügigkeit seiner Mäzenin Marie von Thurn und Taxis während seiner monatelangen Aufenthalte optimaleBedingungen zum Schreiben vorfand und sich nicht um Alltägliches und Materielles sorgen musste. Er unternahm lange Spaziergänge auf den Klippen und benutzte die umfangreiche Bibliothek. Wenn die Fürstin und er Musik hören wollten, luden sie ein Streichquartett aus Triest ein, das für sie spielte. Es hat mich wirklich sehr berührt, in einem der stimmungsvoll möblierten Zimmer die vier Notenständer inklusive Noten in Quartettaufstellung vor dem Kamin zu sehen, umgeben von Sesseln und Sofas – so arrangiert, als wären die Musiker kurz mal aufgestanden. In dem Moment hatte ich das Gefühl, vor einem Tor zu einer anderen Zeit zu stehen, ganz sonderbar. Obwohl ich sonst kulinarischen Freuden nicht abgeneigt bin, hat mich hier viel eher der Hauch einer vergangenen Zeit angeweht als beim Anblick der kostbar gedeckten Tafel im Speisezimmer! Aus solchen Umständen kann man nur erahnen, dass Rilke hier eine Umgebung vorfand, von der jeder Künstler nur träumen kann.

Was er sicher empfand, war das, was für uns heutige Besucher noch spürbar ist: Duino ist ein Ort seltener Schönheit. Ein Schloss wie im Traum oder im Märchen. Auf hohen Klippen gelegen, mit kreischenden Möwen in der Luft und Blick auf das blaugrüne Meer, das sich unten in weisser Gischt bricht. Der Park war selbst jetzt noch eine Blütenpracht mit den von Rilke geliebten Rosen und Dahlien in allen erdenklichen Farben. Roter Wein kletterte an alten Mauern hinauf, auf denen Steinamphoren standen, weisse lebensgrosse Marmorstatue schauen vom Meer weg zum Betrachter – geht es noch romantischer? Und immer wieder der Blick auf das endlose Wasser. Hier wäre ich gern in einer Vollmondnacht im Juni! Es muss unvergleichlich schön sein, wenn es selbst an einem Novembertag mit Nieselregen so viel Atmosphäre transportiert.

Obwohl ausser uns doch einige Besucher da waren, nahm mich das Innere des Schlosses richtig gefangen. Es gibt ja alte Burgen, die fast kahl präsentiert werden. Duino ist komplett möbliert, inklusive Teppichen und Gardinen, mit wunderschönen Stücken, die den Geist einer anderen Epoche widerspiegeln. Vielleicht ist alles so gut und liebevoll erhalten, weil das Schloss im Privatbesitz ist? Die alten Spiegel, die oft benutzten Sessel liessen erahnen, wie es 1912 hier war – ich glaube, deshalb hat mich der Ort so bezaubert. Und wenn ich einen Satz lese wie „1922 wurden im Schloss elektrische Leitungen verlegt“ (weiss nicht, ob die Jahreszahl stimmt), läuft meine Fantasie auf Hochtouren, wie das vorher wohl war… Wenn ich auf der kleinen Terrasse stehe und ein laminierter Computerausdruck behauptet, dass Rilke hier die Elegien geschrieben habe, spüre ich nichts von ihm. Aber wenn ich auf knarzendem, polierten Parkett durch die altmodischen Salons gehe, ist er da.

Was den Besuch für mich auch sehr gelungen machte, war die umfangreiche Instrumentenausstellung der Orpheon Foundation. Wundervolle, sehr alte und wertvolle Violen da gamba und Instrumente der Geigenfamilie waren sehr ansprechend präsentiert, indem sie einfach ohne weitere Sicherheitsvorkehrungen in die Wohnräume integriert wurden. Das heisst: kein Alarm, kein Glaskasten, einfach eine alte italienische Gambe neben einem Sessel, die einen direkt einlud, sie in die Hand zu nehmen und zu spielen. Diese Unmittelbarkeit, die ich noch nirgends, in keiner Instrumentenausstellung so erlebt habe, trug auch zu dem bewohnten Eindruck von Duino bei und stellte eine Verbindung zu einer noch früheren Zeit her. Wieviele Finger haben das Griffbrett dieser Gambe von 1550 schon berührt? Die meisten sind längst zu Staub zerfallen, und die Gambe steht hier vor uns, spielbar und wunderschön wie vor Jahrhunderten. In solchen Momenten wird mir meine Endlichkeit immer sehr bewusst.

Ich muss mich sehr beherrschen, nicht Dutzende von Gambenfotos hier hochzuladen, aber Duino soll Rilke vorbehalten sein. Ich hatte ein schmales Insel-Bändchen aus der Bibliothek meines Vaters dabei, das ich am Vorabend im Hotel gelesen habe (und an ihn gedacht habe. Wie gut hätte ihm Duino gefallen! Es ist zu schade, dass er nicht die Reiselust seiner Kinder hatte!): „Erinnerungen an Rainer Maria Rilke“ von Marie von Thurn und Taxis. Mit einer sehr poetischen Passage aus diesem Werk will ich enden:

„Unvergeßlich bleibt mir ein Abend: Wir saßen im unteren gewölbten Zimmer, von dem eine kleine Treppe hinunter zu den Bastionen führte, die Sonne war gerade untergegangen und das Meer lag in tiefstem Blau; langsam färbte die Dämmerung das Wasser immer dunkler. Da begann der Dichter die beiden Elegien vorzulesen. Und als die Nacht hereingebrochen war, hörten wir das unbeschreibliche Gedicht, in dem man das Rauschen des Sturmes, den Hauch der Nacht und den Atem der Unendlichkeit zu spüren vermeint, jenes

„Uraltes Wehn vom
Meer…“

Niemand von uns wagte zu sprechen, schweigend und unbeweglich saßen wir noch lange in der wachsenden Dunkelheit.“

 

Vom Inn an die Adria: Trieste

Städte am Meer üben eine besondere Anziehungskraft auf mich aus, und mein Vater inspirierte mich dazu, Joyce und Rilke zu lesen – auf deren Spuren im Süden wollte ich schon lange wandeln. Wenn es dann wahr wird, ist es doch so unfassbar, dass die Seele danach noch tagelang hinterherhinkt und viel später wieder zuhause ankommt als der Körper. Vielleicht auch, weil Triest relativ nah ist (vielleicht der nächstgelegene Meeresstrand zu Wasserburg?) – nach fünfeinhalb Stunden entspannter Fahrt auf der völlig leeren Tauernautobahn stiegen wir in Duino am Hafen aus dem Auto, setzten uns in der Sonne auf die Hafenmauer und zogen im Lauf der Minuten immer mehr aus… So ein abrupter Klimawandel ist für mich auch immer wieder unfassbar! Und das Licht! Und die Möwen! Tatsächlich war es uns bald zu warm und zu hell (meine Sonnenbrille ist längst unauffindbar im Winterschlaf).

Ich war gespannt darauf, was für eine Stadt Triest ist. Ganz am äussersten Rand Italiens gelegen und mit einer wechselvollen Geschichte im 20. Jahrhundert – erst fast 600 Jahre österreichisch, dann nach dem 1. Weltkrieg plötzlich italienisch, dann besetzt, dann ein freies Territorium und ein Gezerre zwischen Jugoslawien und Italien und erst ab 1975 definitiv italienisch – könnte es eingeschlafen und auf dem Abstellgleis wirken. Das Gegenteil ist der Fall, Triest ist definitiv italienisch. Nicht nur, weil im römischen Amphitheater die Katzen unbehelligt hausen, sondern weil die Einwohner eindeutige Italiener sind. Der Verkehr und die Parkplatzsuche am Freitag um halb fünf war derart rasant und infernalisch, dass ich meinem Brüderchen ewig dankbar sein werde, dass er sich ans Steuer setzte und und das Auto auch tatsächlich parken konnte – am Krankenhaus vor der Notaufnahme, wo ich mit meinen zerrütteten Nerven genau richtig war… Durch die Lage am Meer wimmelt es stadteinwärts an Einbahnstrassen. Oft dreispurig, aber gern fünfspurig befahren. Wir haben uns gefragt, warum an den Bushaltestellen solche Menschentrauben stehen und spätestens da wurde klar, dass das die beste Art ist, sich in Triest fortzubewegen. Ausser man hat ein altes verschrammtes Auto, das man nicht mehr liebt, und Spass an riskanten Manövern. Also echt! Ich bin in Neapel öfter Auto gefahren und fand das wesentlich entspannter als dieses vermeintlich kultiviertere Norditalien!

Die Einwohner von Triest weisen sich auch dadurch als echte Italiener aus, dass es in der Aperitivo-Stunde relativ geräuschvoll zuging und die Innenstadt von einer quirligen Menschenmasse bevölkert wurde. Trotz früherer Dunkelheit spielt sich das Leben noch draussen ab, mit Kerzen auf den Bartischen und Aperol-Spritz bis zum Abwinken. In München sieht man im Sommer weniger von diesen orange schillernden grossen Weingläsern als hier an Allerheiligen. Und jeder schien den anderen zu kennen – spontane, begeisterte Begrüssungen auf der Strasse wirkten, als hätten sich die Leute jahrelang nicht gesehen. Wahrscheinlich sind sie Nachbarn… Und was noch ganz charakteristisch war: während unseres
Aufenthalts bewegten sich die Temperaturen zwischen 18 und 20 Grad, dazu wehte ein richtig warmer Wind vom Meer. Wenn sich bei uns im April ein solches Wetter ankündigt, hole ich meine dünnsten Strickjäckchen raus und überlege, ob ich ohne Strümpfe gehen kann. In Italien wird dieser Temperatursturz gefeiert mit dem Rauskramen der anscheinend zu wenig benutzten, aber geschätzten Winterklamotten. Die Herren in dicken Daunenjacken, die Damen in wunderschönen kniehohen Stiefeln, in denen man in Moskau getrost überwintern könnte, voluminösen Capes oder Mänteln und grauen, meterlangen grobgestrickten Schals. Und jeder dritte Hund war auch schon warm in sein Mäntelchen verpackt, zum Teil auch in die wattierte Daunenversion.

Da Entspannung oberstes Ziel für unseren Aufenthalt war (laut Familienangehörigen nicht grade meisterhaft erreicht), besichtigten wir für meine Verhältnisse wenig und gingen mehr in der prachtvollen Innenstadt und an den Molen spazieren. Trotzdem war zu wenig Zeit, um gepflegt in den von den Literaten frequentierten Kaffeehäusern zu sitzen, das kommt dann nächstes Mal! Nach einer eher skurrilen Nacht in einem kleinen, seltsam-sorgfältig eingerichteten Spukhaus, äh, Hotel in Miramare mit immerhin grandiosem Meerblick, in dem nachts die Leitungen seufzten und morgens trotzdem nur kaltes Wasser in der Dusche kam, zogen wir kurzerhand ins beste Hotel Triests und wohnten wahrhaft königlich, direkt an der Piazza und mit atemberaubenden Blick. Weil wir so spät anriefen, bekamen die Kleinen eine Suite zum Preis eines Doppelzimmers – ein Eckzimmer im 2. Stock mit Meer- und Piazzablick. Ich musste mit einem Einzelzimmer deluxe anstelle eines normalen Einzelzimmers vorlieb nehmen und konnte auch das Wasser sehen, wenn ich mich aus dem Fenster beugte. Ich habe
selten so traumhaft gewohnt! Und besonders schön war das opulente Frühstück unten in „Harrys Bar“ – ich hätte nie gedacht, dass ich jemals in einem Ableger von „Harrys Bar“ sitzen würde und sogar noch frühstücken könnte! Meer- und Piazzablick durch die meterhohen Fenster, plüschige Einrichtung, eine ganze Batterie von silbernen Teekännchen, die man sich am Samowar selber füllen konnte – diese Frühstücksstunden machten das zu wenige Kaffeehaussitzen für mich wett. Und es war eine solche Atmosphäre, dass man nur noch die Zeit anhalten wollte!