Ein Meer aus schaukelndem Wollgras; die dunkle Tanzfläche eines Sees, auf dem Mücken als winzige Goldpünktchen Polka proben; ein Heer von Regenbögen; in alten Schlossparks lustwandelnd der Melancholie entrinnen – ich klappe das Buch zu, um mich zu vergewissern: wirklich kein Gedichtband? Wirklich ein Reiseführer? Die beiden munter aufgerichteten Murmeltierchen auf dem Cover bestätigen: Franziska Lipps „Beste Aussichten im Salzburger Land“ ist ein Wander- und Reiseführer, aber einer, der ins Lyrik-Regal gehört. Oder wann ist es mir zum letzten Mal passiert, dass ich genussvoll Passagen aus einem Wanderführer noch mal gelesen habe, weil sie gar so charmant und phantasieanregend sind? Oder dass ich das Buch sogar mit ins Bett genommen habe, weil es so eine beruhigende und nette Lektüre für die Zeit zwischen Wachen und Träumen ist? Jakob Lipps ganzseitige stimmungsvolle Fotos bringen einen genau so zum Träumen wie die prägnanten, aber bilderreichen und poetischen Texte von Franziska auf der gegenüberliegenden Seite. Und man nimmt wunderschöne Impressionen von türkisen Schluchten, zauberhaften Eishöhlen, die nur von den Karbidlampen der Besucher beleuchtet werden, blühenden Almwiesen oder schattigen Arkaden mit in seine Träume. Und die Gewissheit: ein Tagesausflug in eins dieser unbekannten Kleinode muss bald mal drin sein…
Dass mich das Buch, dessen Werdegang übers letzte Jahr ich immer wieder hautnah mitbekommen habe, so begeistert, liegt natürlich auch daran, dass Franziska eine liebe Freundin ist, kennengelernt auf musikalischen und literarischen Umwegen. Und für mich als grossen Salzburg-Fan ist es natürlich was Besonderes, eine waschechte Salzburgerin zu kennen. Leider verfällt sie nur in Dialekt, wenn sie sich für etwas sehr begeistert oder in Rage redet – glücklicherweise ist das bei den Berichten über die Entstehung des Buches doch manchmal vorgekommen, denn dann finde ich sie immer besonders liebenswert. Und es ist einfach schön, von einer Einheimischen so viele besondere Tips zu bekommen, sei es live oder jetzt hier im Buch. Sie kennt und liebt die Gegend von Kindesbeinen an, wie sie im Vorwort selber schreibt, und das spürt man auf jeder Seite. Trotzdem ist es grade eine besondere Begabung, im Altvertrauten noch den Blick für das Ausgefallene und Erwähnenswerte zu haben, für kleine Details wie einen Wasserfall, der wie zarte Perlenschnüre über einen Felsen rieselt, oder grandios grosse wie den Grossglockner oder die Krimmler Wasserfälle, die sechs Mal so hoch wie die Niagarafälle sind. Überhaupt gefällt mir ihre Einteilung. Das kulinarische Kapitel mit dem Titel „Unwiderstehliche Genussadressen“ ist echt Franziska, ebenso die Idee, mystischen Glücksplätzen oder Orten mit Wasser in irgendeiner besonderen Form eigene Kapitel zu widmen. Eine so ganz andere Einteilung, als man es von „normalen“ Reiseführern kennt, die einen ungewöhnlichen roten Faden durchs Salzburger Land zieht.
Was mir immer wieder auffällt, wenn ich dort bin, oder eben hier in dem Buch: die ÖsterreicherInnen scheinen eine ausgeprägtere Genussfähigkeit zu haben als wir. Entweder sind sie generell begabter dafür, oder sie verstehen es besser, sich Zeit für die schöneren Dinge des Lebens zu nehmen. Wortschöpfungen wie „einspurige Verlockung“ (es geht hier um eine kleine Museumsbahn…), die „Versuchung des ersten Bissens“ oder „absolute Suchtgefahr“ scheinen eher einer entspannten, die Kreativität anregenden Stimmung entsprungen zu sein als einer korrekt und arbeitsam am Schreibtisch sitzenden Haltung. Und wo sonst auf der Welt bitte gibt es Strandkörbe wie auf der Seeterrasse des Schloss Fuschl, die auch im Winter bei Eis und Schnee „absolute Diskretion für ein kuscheliges Tête-à-tête zu zweit“ bieten?
Apropos „zu zweit“: ein weiteres nettes Detail an diesem Reiseführer ist, dass Franziska in Teamarbeit mit ihrem Mann, der alle Fotos aufgenommen hat, diese ganzen Orte bereist und erfahren hat. Welches Ehepaar kann schon von sich behaupten, in etwas mehr als einem Jahr 66 Ausnahmeorte und elf Almen besucht zu haben? Das Buch ist also gleichzeitig ein Dokument eines ganz ausgefallenen und speziellen gemeinsamen Lebensjahres, und das finde ich beeindruckend und wunderschön. Wenn das so weitergeht, wird die Fotoeckenindustrie nicht viel Umsatz mit den beiden machen…
Lyrischer Genuss hin oder her: „Beste Aussichten im Salzburger Land“ weckt definitiv die Abenteuerlust und ich ertappe mich dabei, wie ich ständig zu der Karte am Schluss blättere und überlege, wann ich wo hinfahre. Das handliche A5-Format, die abgerundeten Ecken, die Eselsohren im Rucksack vermeiden, die kurzen Texte, denen Telefonnummern und Webseiten direkt beigefügt sind, machen das kleine Juwel zu einem alltagstauglichen Nachschlagewerk. Und, geneigte Leserinnen und Leser, zum Geburtstagsgeschenk des Jahres, wenn man einigermassen in Grenznähe wohnt – vielleicht zusammen mit einem Gutschein für einen unvergesslichen Ausflug nach Wahl?
Franziska Lipp, Beste Aussichten im Salzburger Land, Gmeiner Verlag, 15 Euro
(alle Abbildungen, auch hier: Jakob Lipp)