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Notenlesen

Manche Schüler lernen quasi nebenbei Noten zu lesen, ohne lange darüber nachzudenken oder es überhaupt zu thematisieren. Dann gibt es solche, die sich etwas anstrengen müssen und regelmässig ein paar Minuten zum Notenschreiben oder Abfragen brauchen. Und dann gibt es die ganz genialen, die sofort alles nach Gehör spielen, den Sinn des Notenlesens überhaupt nicht einsehen und sich monatelang weigern, den schwarzen Gebilden auf dem Papier auch nur einen Blick zu schenken. Die fürchte ich! Es ist ein Geschenk, Schüler zu haben, die einen
natürlichen Zugang zur Musik haben, kreativ sind und sich mit was für haarsträubenden Fingersätzen auch immer selbst Melodien auf dem Klavier zusammensuchen. Doch dieses Talent muss richtig genutzt werden, um über ein nettes Dilettantenmass hinauszukommen. Es geht am Anfang vor allem darum, sich die unterschiedlichen Vorgänge in der Musik bewusst zu machen und dem Alter entsprechend etwas analytisch an die Sache heranzugehen. Dieser Schritt ist erfahrungsgemäss schmerzhaft und schwierig, deshalb versuche ich, so behutsam und langsam wie möglich Fragen zu stellen und nicht locker zu lassen. Ich weiss, dass dieser Denkprozess leicht in Frustration umschlagen kann. Aber ich will, dass meine Schüler schnell von irgendwelchen Hilfestellungen unabhängig werden, dass sie sich alle Fragen selber beantworten können und nicht zu lange zuhause jemand brauchen, der mit ihnen übt. Und der erste und ganz wichtige Schritt in diese Unabhängigkeit ist es eben, sich den Notentext eigenständig zu erschliessen.

Eigentlich ist es sehr logisch und einfach, jemanden die Noten anhand der Klaviatur zu erklären. Bei keinem anderen Instrument sieht man die Töne so anschaulich vor sich. Deshalb wird das schwarz-weiss-Muster der Tasten auch in allen fünften Klassen verwendet, um die Abfolge der Ganz- und Halbtöne zu erklären. Viele Lehrer drucken auch in den ersten Stegreifaufgaben noch ein Bild der Klaviatur ab oder erlauben ihren Schülern, sich die Tasten als Hilfestellung zu skizzieren. Auch Kinder, die kein Instrument spielen, finden so einen leichten Zugang zum Notenlesen. Dann sollte es für Schüler, die tatsächlich dieses Instrument lernen, doch wohl möglich sein, schnell und ohne Komplikationen Noten zu lernen! In der Realität braucht es doch oft Geduld, um die Transferleistung „von den Tasten zu den gedruckten Noten, und dann noch mit den richtigen Fingern“ zu begleiten, und vor allem den umgekehrten Weg…

Meine Methode ist äusserst konventionell, unkreativ und wahrscheinlich nicht sehr lustig – aber effektiv. Es gibt keine farbigen Aufkleber auf den Tasten. Die Noten heissen auch nicht „Dromedar“ und „Elefant“, sondern werden von Anfang an mit ihren richtigen Namen benannt. (Ich weiss, dass ich mich damit auf dünnes Eis begebe und womöglich eine Diskussion entfache. Aber genau so verfahre ich auch mit den Dur- und Molldreiklängen oder Intervallen. Auch kleine Kinder sind fähig, diese Phänomene richtig zu benennen. Ich finde, es ist Zeitverschwendung, erst nette kindgerechte Namen dafür zu finden und sie später verwirrenderweise anders zu nennen.) Ich beginne damit, dass wir ab der ersten Stunde die Namen der weissen Tasten lernen. Erst das C, dann D und E, dann im Bassschlüssel H und A. Wir spielen die Noten mit einem Finger und fragen uns gegenseitig ab, wobei ich Fehler machen darf, die der Schüler erkennen soll (für manche Kinder ist das am Anfang etwas verstörend und sie reagieren ganz verdutzt und ungläubig, wenn ich tatsächlich eine Note falsch benenne. Aber das gibt sich schnell!). Sobald die Namen der Tasten bekannt sind, beginne ich, die geschriebenen Noten in den allerersten Stücken, die wir spielen, zu benennen und frage auch die Schüler danach. Parallel dazu schreiben wir die Noten – ganz langsam, in einer Stunde nur lauter Cs, in der nächsten Woche eine Note dazu, und dann Kombinationen aus den schon gelernten Noten. Wir bleiben auf dem Niveau „das ist ein…“ oder „schreibe ein…“, bis die Schüler die Noten sicher erkennen. Die nächste Stufe ist, dass ich nach einzelnen Noten frage („wie heisst…?“) oder ansage: „schreibe ein E“.  Dafür lassen wir uns auch wieder zwei, drei Wochen Zeit, bis ich zur dritten Stufe übergehe „zeig mal auf ein E“ oder „wie viele Ds siehst du auf der Seite?“. Jetzt, kurz vor Weihnachten, sollten vom C aus je fünf Töne nach oben und unten bekannt sein, und wenn die Kinder motorisch schon fitter sind, haben wir auch etliche Violin- und Bassschlüssel gezeichnet (manche Schulanfänger schaffen das im September einfach noch nicht!). Da wir immer mit unterschiedlichen Farbstiften schreiben, sehen
die Notenhefte jetzt schon sehr bunt aus. Ich bilde mir ein, dass es motivierender ist – ob es sein muss, weiss ich nicht. Ich erinnere mich an die zarten Bleistiftstriche, mit denen meine erste Lehrerin die ersten Noten aufgeschrieben hat. Obwohl alles etwas eintöniger aussieht, habe ich die Noten auch gelernt!

In diesen ersten Wochen ist es wichtig, Notenlesen konsequent in jede Stunde zu integrieren und möglichst auch kleine Hausaufgaben dazu aufzugeben. Ich bitte die Eltern, jeden
Tag eine Minute mit ihren Kindern Noten zu lesen. Falls die Eltern selbst keine Noten lesen können, ist das kein Problem – ich lade sie ein, in einer Stunde anwesend zu sein, und normalerweise sind sie dann fit in den ersten fünf Noten, lernen in den nächsten Tagen mit ihren Kindern mit und können sie ganz anders unterstützen.

Bis Weihnachten lernen meine Schüler die Noten sozusagen auf die „harte Tour“, nur anhand der Stücke, die wir spielen,  und durch eigenes Schreiben. In den folgenden Wochen erlaube ich uns aber doch, ein bisschen mehr zu spielen, um die Kenntnisse und die neu dazukommenden Töne zu festigen. Sehr beliebt ist ein Kartenspiel[1] mit zwei identischen Sätzen Noten, auf deren Rückseite passende Tiere oder Symbole sind. (Jetzt doch…Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in dieser Reihenfolge einfach schneller und sicherer geht.) Zuerst legen wir die Noten in eine zufällige Reihe, lesen sie und singen sie. Auch wenn die Kinderstimmen kein tiefes a singen können, ist dieser Aspekt ganz wichtig. Wenn wir das am Klavier machen und die Noten aufs Pult gestellt haben, werden sie nach dem Singen auch gespielt, aber normalerweise sitzen wir am Boden. Nach einigen Durchgängen bitte ich den Schüler, die Noten in der Reihenfolge, in der sie auf dem Klavier vorkommen, auszulegen und dann umzudrehen, so dass die Bilder nach oben liegen. Dann gebe ich ihm einzelne Karten aus dem zweiten Satz des Spiels mit der Notenseite nach oben, und er soll sie zum passenden Symbol legen. Das ist noch mal eine gute Transferübung und zeigt mir, wie gut der Schüler die Töne kennt.

Fast noch beliebter ist meine Magnettafel mit Notenlinien, Schlüsseln und kleinen Notenmagneten von Lucy Chu[2] – es ist Plastik, es ist bunt und leicht, und Kinder fassen so was anscheinend gern an und erkennen es sofort als Spielzeug. Es ist ideal für Kinder, die noch nicht so schnell schreiben können. Ein Notendiktat, bei dem man mit einem leisen „plopp“ den Magnet sofort auf die richtige Zeile setzen kann, macht offensichtlich mehr Spass. Entweder sage ich an, was der Schüler „schreiben“ soll, oder ich lege eine Melodie, die wir dann lesen und singen. Der Vorteil der Tafel ist, dass sie so klein und handlich ist, dass man sie schnell aufs Notenpult stellen kann und die Melodie spielen kann. Und ich muss noch hinzufügen, dass sie generell eine grosse Faszination auch auf wartende Schüler und sogar Eltern ausübt. Wenn ich sie ausgepackt habe, sind die Kinderbücher, die ich sonst für solche Zwecke auf dem Wohnzimmertisch habe, uninteressant. Und sie eignet sich auch perfekt, um später Intervalle, Dreiklangsumkehrungen oder Tonleitern zu üben und im wahrsten Sinn des Wortes zu „begreifen“.

Dann habe ich noch ein ganz winziges Spielzeug, das ich leicht in meiner Schreibmappe mitnehmen kann. Mein Kollege Martin Klinger experimentiert immer mit neuen Spielideen für seine Gitarrenschüler und hat mir einen achtseitigen Würfel geschenkt, der mit Notennamen beklebt ist. Die Schüler dürfen würfeln und in der Schnellfassung einfach den Ton spielen oder, wenn wir am Tisch sitzen und Noten schreiben, die entstehende Melodie aufschreiben. Mit interessanten Ergebnissen, die ganz ernsthaft nachgespielt werden!

Zusätzlich zu der ganzen spielerischen Theorie ist es natürlich wichtig, die Notenkenntnisse  in Echtzeit anwenden zu könne. Für diese Zwecke lasse ich meine Schüler kurze und leichte Stücke aus anderen Klavierschulen vom Blatt spielen. Immer nur eins, man muss nicht viel Zeit dafür einplanen. Oder wir spielen vierhändig, die ganz leichten Klassiker von Jessie Blake[3], die in diesen Wochen einfach perfekt sind, oder aus dem ersten Band der vierhändigen Tastenträume von Anne Terzibaschitsch[4]. Spätestens jetzt fällt bei den meisten der Groschen, warum wir uns so lang mit diesen Noten abgequält haben – um ohne Hindernisse allein oder mit anderen Musik zu machen und mit Freude neue und unbekannte Stücke zu entdecken.

Auch wenn alles so einfach und durchstrukturiert klingt, habe ich doch regelmässig Schüler, die sich als direkt lernresistent erweisen oder sich mit Händen und Füssen gegen das Notenlernen wehren. Ich erinnere mich an eine Zweitklässlerin, die sich zwei Jahre lang standhaft geweigert hat, Noten zu lesen. Inzwischen ist sie 17, spielt hervorragend vom Blatt, ist deswegen eine gesuchte Begleiterin und mit ihren Solobeiträgen das sichere Highlight des Konzerts. Also sollte man auch bei hartnäckigen Fällen die Hoffnung nicht zu schnell aufgeben!


[1] Horst
Hoffmann, Logo-note, Horo-Vertrieb

[2] Lucy Chu, www.e-znotes.com

[3] Jessie Blake, 8 Duets for
Beginners, Boosey & Hawkes

[4] Anne
Terzibaschitsch, Vierhändige Tastenträume Band 1, Holzschuh-Verlag

(veröffentlicht in „Pianonews“ 4/2011)

„Wann hättest du denn Zeit zum Üben?“

„Wann hättest du denn Zeit zum Üben?“ Das ist in letzter Zeit meine Lieblingsfrage an Interessenten, die zu einer Kennenlernstunde zu mir gekommen sind. Nachdem Mutter und Kind das Wohnzimmer in Augenschein genommen haben und die erste Schüchternheit langsam abgelegt ist, breche ich nach dem üblichen Smalltalk das Eis mit dieser Frage. Anfangs ist es oft so, dass die Kinder zu zurückhaltend sind und die Mütter für sie antworten. Doch mit dieser Frage richte ich mich direkt an den neuen Schüler, schaue ihn an und fordere ihn auf, doch mal von seiner Woche zu erzählen. Und so erfahre ich, dass er nach dem Nachmittagsunterricht immer so spät heimkommt, weil der Bus den und den Umweg fährt, und vor den Hausaufgaben geht er mit dem Hund raus, und Donnerstag ist Tennis, da geht er seit Jahren mit so und so hin, und jeden Tag um vier kommt die Freundin zum Spielen, und Samstag morgen ist zum Üben nicht so gut, weil man einmal in der Woche länger schlafen will – kurz, ich bekomme einen Einblick in Gepflogenheiten, Hobbies, zusätzliche Aktivitäten, der mir viel über den Schüler und seinen Hintergrund sagt.  Anfangs habe ich es aus Diskretion vermieden, mich mit Fragen derart in das Leben eines anderen zu drängen, wenn wir uns noch kaum kennen, aber ich merke, dass es Kindern viel Spass macht, auf diese Art von sich zu erzählen. Und ich will das alles nicht aus Neugier wissen, sondern um herauszufinden, ob es sinnvoll ist, ein Instrument zu beginnen. Wenn wir einen Überblick über die Woche haben, frage ich konkret, wo denn das regelmässige Klavierspielen Platz hätte und erkläre auch, dass ich es einfacher finde, wenn diese Aktivität eine feste Uhrzeit bekommt. Zum Beispiel: Mittagessen, Pause, Hausaufgaben, 16 Uhr Klavierspielen. Oder um halb drei vor den Hausaufgaben, und um viertel vor sechs vor dem Abendessen noch mal. Und auf jeden Fall am Samstag vormittag, und falls man einen Ausflug macht, muss man entsprechend früher aufstehen, denn abends hat man sicher keine Lust mehr. Inzwischen hat sich meistens auch die Mutter wieder eingeklinkt, und wir überlegen zu dritt, welche Uhrzeit realistisch und auch auf Dauer einzuhalten wäre – kurz, bevor wir überhaupt am Klavier gesessen haben, besprechen wir ernsthaft, wie dieses Klavierspielen im Alltag aussieht. Das gefällt mir! So habe ich noch vor der ersten Stunde einen Minivertrag mit dem Schüler, an dessen Zustandekommen er aktiv beteiligt war und an den ich ihn gegebenenfalls erinnern kann. Es macht auch Eindruck auf die Kinder – wenn ich nach acht Wochen im Herbst frage, wie es mit der Übezeit aussieht, bekomme ich oft zu hören: „Gut! Ich hab meiner Freundin gesagt, dass sie immer erst um halb fünf kommen kann, weil vorher meine Klavierzeit ist.“ Diese Verabredung klappt normalerweise sehr gut, weil ich die Interessenten schon am Telefon auf wirkliches Interesse geprüft habe. Sollte ich erst jetzt beim Gespräch merken, dass keine Bereitschaft da ist, sich wirklich auf das Instrument einzulassen, ist das für mich auf jeden Fall ein Grund, den Unterricht gar nicht erst zu beginnen.

Kurzum, ich nutze das persönlich Kennenlernen nicht nur für den ersten oberflächlichen Eindruck, sondern vor allem, um Eltern und Schüler meine Erwartungen und meine Arbeitsweise klar zu machen. Gerade bei Eltern, die selber kein Instrument spielen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, wie viel häusliche und tägliche Arbeit dahinter steckt. Naiv gesagt: das Kind lernt nicht dadurch, dass es einmal in der Woche zu mir kommt und die Eltern als einzige Leistung mein Honorar überweisen. Ich erwarte und brauche mehr Unterstützung von den Eltern, gerade bei Grundschulkindern. Ich mache auch klar, dass meine Zeit kostbar ist und dass ich Ergebnisse sehen will. Inzwischen habe ich auch das Selbstbewusstsein, schon im ersten Gespräch darauf hinzuweisen, dass auch ich mir vorbehalte, den Unterrichtsvertrag zu kündigen, wenn die Mitarbeit nicht so läuft, wie ich es beschrieben habe. Als ich das die ersten Male ausgesprochen habe, kam ich mir schon ziemlich streng vor… Aber ich habe mich daran gewöhnt, so aufzutreten. Ich weise auch immer auf meine Kollegin hin mit der Visitenkarte „Spass beiseite – Geigenunterricht!“, um klarzustellen, dass es sich bei meinem Unterricht nicht nur um ein nettes Nachmittagsvergnügen handelt oder gar Kinderbetreuung mit Musik.

Außerdem erkläre ich den Eltern, warum es wichtig ist, ein echtes Klavier und kein E-Piano anzuschaffen und weise sie darauf hin, wo eventuell ein gebrauchtes zu kriegen ist. Und ich mache klar, dass ich im Unterricht keine Kopien verwende – aus ästhetischen und moralischen Gründen. Es ist mir lieber, Eltern gleich auf die zusätzlichen Kosten hinzuweisen, die noch auf sie zukommen können, als mitten im Schuljahr Diskussionen zu beginnen, ob und warum schon wieder neue Noten angeschafft werden müssen. Alle Informationen, auch über abgesagte Stunden etc., habe ich in einem Faltblatt zusammengefasst, das ich den (von meiner langen Predigt vielleicht erschlagenen) Eltern mitgebe. Oft sehe ich die Eltern nur an diesem Termin und zu unsererm Rückblick in der letzten Stunde des Schuljahres, deshalb beschäftige ich mich mehr mit ihnen. Die Schüler lerne ich ohnehin erst richtig kennen, wenn sie ohne „Zuschauer“ bei mir auftauchen – sie verhalten sich dann verständlicherweise ganz anders.

Ich habe mir auch angewöhnt, für solche Kennenlernstunden genügend Zeit einzuplanen. Anfangs dachte ich, eine halbe Stunde sei ausreichend, doch inzwischen lade ich nur jemand ein, wenn ich eine Stunde erübrigen kann. Wenn man Termine zu knapp nacheinander ausmacht, kann es passieren, dass mitten im Gespräch die nächste Familie vor der Tür steht und drei kleine Mädchen von fünf bis neun ins Zimmer purzeln und sich auf dem Sofa arrangieren, während sowohl mir, die ich mit einem Kind gerechnet habe, als auch der vorhergehenden Familie das Kinn leicht runterklappt. Und ich mag es nicht, am nächsten Morgen ehrfürchtig angerufen zu werden, ob ich denn dieses erste Kind nehmen würde, wo ich doch so viele andere Bewerber habe – das ist eine unangenehme Art von Wettbewerb oder künstlichem Druck, die ich unbedingt vermeiden will.

So sieht also der nicht-musikalische Teil einer Kennenlernstunde bei mir aus! Und noch ein Wort zu Tee und Kuchen: natürlich selbstgebacken! Und natürlich auf dem feinsten Porzellan serviert, auch wenn das Kind noch nicht zur Schule geht! Ich habe noch nie schlechte Erfahrungen damit gemacht, im Gegenteil: kleine Kinder freuen sich, wenn sie aus „erwachsenem“ Geschirr trinken dürfen und passen oft noch mehr auf. Und bei den komplizierten feinmotorischen Sachen, die ich mit den kleinen Fingerchen vorhabe, dürften sie in der Lage sein, eine Teetasse am Henkel anzufassen!

(veröffentlicht in „Pianonews“ 2/2011)

 

Schumann für Klavierschüler

Da zwei Personen, die mir sehr nahestehen, am 8. Juni Geburtstag haben, denke ich jedes Jahr auch an Robert Schumann, der dieses Geburtstagsdatum mit den beiden teilt. Sein 200. Geburtstag dieses Jahr ist  Anlass für viele Feierlichkeiten und Konzerte, und obwohl ich aus Überzeugung immer viel Schumann mit meinen Schülern spiele, hat es dieses Jahr eine besondere Bedeutung. Schumann hat uns Klavierspielern einen unglaublich umfangreichen Schatz an Literatur für alle Altersstufen hinterlassen – hier eine kleine Auswahl an Werken, die ich gerne mit Schülern erarbeite.

Natürlich steht das „Album für die Jugend“ am Anfang – aber nicht nur. Nach drei, vier Jahren Unterricht ist man bereit für die ersten leichteren Stücke, doch viele der folgenden Stücke versteht und schätzt man erst, wenn man älter ist. Deshalb würde ich den Titel wörtlich nehmen und auch noch mit Neunt- und Zehntklässlern, die im normalem bis langsamen Tempo lernen,  Stücke wie das Reiterlied, Gade, Winterzeit oder die wunderschönen unbetitelten „***“ – Stücke studieren. Da jedes Stück einen ganz ausgeprägten Charakter hat, nehme ich sie auch gern als Hörbeispiele, um zu erklären, was romantische Klaviermusik überhaupt ist. Oder ich lasse ganz kleine Kinder die Stimmungen und Emotionen beschreiben – auch eine tolle Hörübung, oft mit sehr kreativen und überraschenden Erklärungen.

Mit den Kinderszenen dagegen sollte man sich Zeit lassen. Hier ist der Titel irreführend und kommt auch manchmal bei den Schülern falsch an: „jetzt bin ich schon so groß und lerne so lange, und sie will, dass ich mich mit Kinderkram berschäftige?“ Obwohl die Stücke oft nur eine Seite lang sind, stecken alle möglichen Schwierigkeiten in ihnen. In manchen, wie der bekannten „Träumerei“ oder „Glückes genug“, zieht Schumann alle Register romantischer Klavierkompositionskunst, und man kann sich gut und gerne bis zur 10., 11. Klasse damit Zeit lassen. Dass auch „echte“ Pianisten diese Stücke gern als Zugabe spielen oder in vorgerücktem Alter als Zyklus aufnehmen, zeigt auch, wie gehaltvoll sie sind. Überhaupt, die Zyklusidee bei Schumann: schon bei den „Kinderszenen“ fängt es für mich an, frevelhaft zu sein, Einzelstücke aus der durchdachten Gesamtkomposition herauszunehmen. Das spricht auch dafür, dieses Opus nicht zu früh zu beginnen, sondern erst, wenn auch die schwierigsten Stücke überblickt werden können. Trotzdem mache ich mich regelmässig der Fledderei schuldig, da ich finde, dass „Von fremden Ländern und Menschen“, das erste Stücke der „Kinderszenen“, der perfekte Einstieg in die Klaviermusik Schumanns und der Romantik überhaupt ist. Es enthält zwei ganz wichtige Parameter der romantischen Klaviermusik: eine singende Melodie über einem dichten dreistimmigen Satz und eine schwierig zu spielende Mittelstimme mehr oder weniger in den Daumen der beiden Hände, die unaufdringlich, aber enorm wichtig die Dynamik und Phrasierung der Oberstimme mitformt. In einem Interview, das Alicia de Larrocha vor fast 40 Jahren gab, sagte sie sinngemäss, dass die Melodie in einem Chopin- Nocturne ganz entscheidend von der Unterstimme gefärbt und gestaltet wird. In „Von fremden Ländern“ kann man in ganz kleinem Massstab lernen, was sie darunter versteht. Deshalb lasse ich meine Schülern am Anfang nur die Mittelstimme mit beiden Händen spielen. Man soll nicht merken, wo die Hände sich abwechseln, und man soll trotz ständiger Daumen legato und geschmeidig spielen, und dann soll es auch noch leise und trotzdem ausdrucksvoll sein – dafür, dass man diese Stimme im Idealfall später kaum bemerken soll, ist das viel Arbeit! Dann kombinieren wir Bass und Mttelstimme, danach die Melodie und die Mittelstimme. Dafür nehmen wir uns auch wieder viel Zeit und versuchen, die Oberstimme mit crescendo und decrescendo schön zu gestalten, natürlich zart  unterstützt von der Mittelstimme. Langsam kann man versuchen, alle drei Stimmen auf einmal zu spielen, aber mit viel Zeit für Wiederholungen. Ein Mal achten wir auf die Ausgewogenheit der drei Stimmen, ein Mal auf einen sonoren, aber nicht zu lauten Bass und so weiter. Auch wenn der Schüler vielleicht ungeduldig wird und nicht versteht, warum wir uns bei einem auf den ersten Blick relativ leichtem Stück so lang aufhalten, möchte ich da ganz sorgfältig vorgehen, sozusagen exemplarisch für die ganze Romantik. Später profitieren wir alle davon!

Diese Technik braucht man unter anderem auch für die fünf „Albumblätter“, die Bestandteil der „Bunten Blätter“ op. 99 sind. Es sind relativ unbekannte, kurze Stücke, aber für mich die reinsten Juwelen und für interessierte fortgeschrittene Schüler ganz wunderbar geeignet, um tiefer in Schumanns Gedankenwelt einzutauchen. Vor allem im dritten und fünften Stück kann man wieder versuchen und üben, eine singende Melodie über einer mehrstimmigen Begleitung zu spielen. Beide Stücke gehören für mich zum Schönsten, was Schumann geschrieben hat – Miniaturen, aber ausdrucks- und gehaltvoll wie Haikus. Das zweite Stück ist nicht so schwer, wie es aussieht. Leider habe ich es bisher mit keinem meiner Schüler geschafft, aber es wäre ein schönes Projekt, diese fünf Stücke als kleinen Zyklus aufzuführen.

Für ambitionierte Schüler sind die „Papillons“ empfehlenswert, allerdings sollten das Schüler sein, die genügend Blut geleckt haben, um auch bei technischen Herausforderungen nicht schlapp zu machen. Und davon gibt es einige in diesen auch relativ kurzen Stücken, zum Beispiel gleich den Anfang des zweiten Stücks: wenn so ein fulminantes Es-Dur-Arpeggio, was ja eigentlich nicht schwer ist, nach dem zarten ersten Stück ff, schnell und treffsicher und auch noch brillant daherkommen soll, kann es leicht zu einer Angststelle werden. Und vor Panik kümmert man sich dann nicht um den durchsichtigen lyrischen zweiten Teil, der eigentlich viel schwerer ist… Ich unternehme diese „Papillons“-Entdeckungsreise gerade mit Antonia – sie ist erst in der 9. Klasse, aber sehr fit.  Nr. 1 bis 4 hat sie vorgestern im Montagskonzert gespielt, ansonsten sind wir bis Nr. 7 gekommen und ich bin glücklich, wie leicht ihr alles fällt und mit wie vielen wunderbaren eigenen Ideen sie diese Musik erfüllen kann.

Für welche Schüler ist Schumann geeignet? Es klingt klischeehaft, aber ich stelle immer wieder fest, dass sich meine Schüler in zwei Lager teilen, wenn wir langsam mit „richtiger“ Literatur beginnen: es gibt die handfestere Schumann/Brahms/Grieg-Fraktion, die es geniesst und braucht, bis zu beiden Ellenbogen in Akkorden zu stecken, und es gibt das Chopin/Debussy/Rachmaninoff-Lager, das eher zarte, flirrende Aquarellfarben, garniert mit glitzernden Läufen, bevorzugt. Ich versuche natürlich, meinen Schülern möglichst viel verschiedene Literatur anzubieten, doch im Lauf der Zeit kristallisiert es sich heraus, bei was die einzelnen sich wohler fühlen, und das sind in der Regel auch die Stücke, die sie in Konzerten spielen. Generell finde ich, dass Schumann es mit seinen jähen Stimmungschwankungen Pubertierenden leicht macht, sich mit solchen Gefühlszuständen zu identifizieren. In dieser Zeit des Suchens und Probierens kommt es den Schülern entgegen, „extreme“ Stücke zu spielen, innerhalb von Sekunden himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt zu sein. Solche Literatur ist für manche ein grossartiges Ventil, um sich auszuleben.

Und Schumann für mich? Mmh, die „Fantasie“ … und „Kreisleriana“, immer wieder…

(veröffentlicht in „Pianonews“ 1/2011)

Ein Engelchen auf meinem Flügel

Ich komme täglich mit vielen Kindern in Berührung: bei der Arbeit sehe ich meine Schüler und deren Geschwister, am Wochenende krabbeln oft genug die Kinder meiner Freundinnen oder meine Nichten und der Neffe auf mir herum. Ich dachte immer, dass Kinder etwas ganz Normales für mich sind – manchmal sind sie süss, manchmal unterhaltsam, manchmal gehen sie einem auf die Nerven. Manchmal staune ich über sie, aber mehr in dem Sinn „ich hätte nicht gedacht, dass das in ihrem Kopf herumgeistert.“ Gerade weil ich jede Woche so viele Kinder sehe, war ich nicht darauf gefasst, dass ich aus heiterem Himmel eine fast „mystische“ Begegnung mit so einem kleinen Wesen haben würde.

Letzten Donnerstag stapfte eine kleine fünfjährige Interessentin mit ihrer Mutter zu unserer Haustür herein. Wie immer beim Erstgespräch gab es Tee und Kekse, und obwohl ich davor und danach unterrichte, versuche ich, mir so viel Zeit wie möglich zu nehmen. Diese Kleine war sehr goldig und hübsch, aber ich merkte nach wenigen Minuten, dass mich noch mehr an ihr fesselte, und zwar auf eine ganz seltsame, ungewohnte Art. Sie war einfach sie selber, ganz unverstellt und unverbildet, und sie schien sich völlig wohl zu fühlen in ihrer Haut und an diesem Ort. Obwohl sie mich noch nie gesehen hatte, begegnete sie mir mit viel Zutrauen und Offenheit und einer unverfälschten Freundlichkeit, wie man sie selten erlebt. Am Klavier war sie neugierig und konzentriert und bewegte ihre winzigen Fingerchen vorsichtig über die schwarzen Zweiertasten – so aufmerksam und liebevoll, wie ich es glaube ich noch nie erlebt habe. Es gibt wilde, alberne Kinder, die laut auf dem Klavier herumpatschen, und ich kenne schüchterne, die vor lauter Angst ihre Bewegungen hemmen und kaum einen Klang herausbringen. Diese Kleine hat wie ein zartes Wesen aus einer anderen Welt die Tasten berührt und mit ihrer Konzentration und Ernsthaftigkeit auch mich in meinem Innersten berührt. Ich bin selten so einer vollkommen in sich ruhenden Persönlichkeit begegnet, die sich einfach sicher ist, dass das, was sie grade tut, in dem Moment genau richtig ist. Und mir wurde ganz schwindlig, weil es sich nicht um einen reifen, lebensweisen Menschen handelte, sondern so ein kleines Wesen, das noch gar nicht viel von der Welt gesehen hat. Für mich vereinigte sie alles in sich, was erstrebenswert ist und worum wir uns so hart bemühen müssen: Aufrichtigkeit, Gelassenheit, Selbstsicherheit, Freundlichkeit, Authentizität. Wer kann von sich behaupten, so viele gute Eigenschaften zu haben? Doch fast nur überirdische Wesen!

Seit Tagen denke ich über diese besondere Begegnung nach. Möglicherweise hat sie mich auch auf diese seltsame Art berührt, weil sie der erste Mensch ist, den ich kennenlerne, der am gleichen Tag wie ich Geburtstag hat. Vielleicht hat sie mir deshalb vor Augen geführt, in welchem paradiesischen Zustand, wirklich im Sinne von unschuldigen Zustand, ich auch einmal war. Ich erinnere mich gut an verschiedene Momente in dem Alter, in dem ich in irgendeiner belanglosen Tätigkeit völlig aufging. Ich erinnere mich daran, wie gut es sich anfühlt, etwas Sinnvolles zu tun, ohne auf die Uhr schauen zu müssen oder sich zu überlegen, was für eine Figur man dabei macht… Wann passiert es, dass man diese Unbefangenheit verliert? Ich fürchte, spätestens mit Schuleintritt. Und was bin ich jetzt für ein anderer Mensch, der sich furchtbar viele Gedanken macht: darf ich das? Was denken die anderen? Sollte ich nicht doch lieber…? Aber bin das wirklich noch ich??  Dieses kleine Mädchen hat mir wieder vor Augen geführt, wie wichtig es ist, in Verbindung zu seinem inneren Kind zu bleiben. Manchmal braucht es einen Stromstoss wie diesen, um uns überdeutlich klar zu zeigen, wer wir eigentlich mal waren, manchmal sind es Momente, in denen man selbstvergessen in sich aufgeht und wieder spürt, was einem wirklich wichtig ist. Egal, ob das Mädchen sich jetzt für Klavierstunden entscheidet oder nicht,  ich bin ihr dankbar, dass sie in mir eine neue Tür nach innen geöffnet hat. Und dass sie mich derartig aufgerüttelt hat und mir auch wieder gezeigt hat, welch immense Verantwortung wir als Lehrer haben, wenn uns so zarte Kinderseelen anvertraut werden.

„Intervallwoche“

Mit Helena muß ich Doppeldominanten schriftlich üben, Simon soll im Quintenzirkel fit werden, Eva braucht ein paar lange Extraminuten fürs Notenlesen, Elisabeth schreibt wahrscheinlich eine Ex über Intervalle und Julia möchte wissen, wie man Weihnachtslieder selber begleitet. Das waren zum Beispiel diese Woche die kleinen Zugaben zu dem, was ich ohnehin in die reguläre Unterrichtsstunde, sprich: dem tatsächlichen Klavierspielen, quetschen wollte. Wenn ich bedenke, daß vieles im Gruppenunterricht stattfindet und die Zeit unendlich kostbar ist, muß ich mir gut überlegen, wie ich sicherstellen kann, daß meine Schüler mit den Monaten und Jahren wirklich umfassend ausgebildet werden. Natürlich abgesehen davon, daß sie eine sichere Spieltechnik, eine entspannte Haltung, stilistische Sicherheit und Auftrittsroutine entwickeln sollen…  Mein oberstes Ziel ist es ja, als Lehrer lieber früher als später überflüssig zu werden. Ich will, daß meine Schüler sich alle Fragen selber beantworten können, sei es in Theorie oder spieltechnisch. Und ich will, daß sie nicht nur Klavier spielen können, sondern sich in Theorie und Musikgeschichte auskennen und vor allem Querverbindungen herstellen können und bei Bedarf auch das theoretische Rüstzeug haben, um selber kreativ tätig zu werden. Das heißt: ich möchte in meinen Unterricht  regelmäßige Übungen einbauen in

Gehörbildung,

elementarer Musiklehre wie Tonleitern, Intervalle, Dreiklänge, Kadenzen,

Rhythmusübungen,

Blattspiel

Vierhändigspiel

Improvisation (heikles Thema – ich bin selber gar nicht fit darin und mache es nur mit Schülern, die sich dabei wohl fühlen. Dabei können dann aber wunderschöne Stücke entstehen!)

Zusätzlich zu den Anmerkungen, die ich mir zum tatsächlichen Klavierspielen während des Unterrichtens bei den einzelnen Schülern aufschreibe, entsteht dazu noch eine wie verrückt hingekritzelte Liste ähnlich wie in der Einleitung, und bei im Moment 48 Schülern artet das früher oder später in Organisationschaos aus. Vor allem, was das Material betrifft  – es gab Wochen, in denen ich meine komplette Karten- und Würfelspielsammlung, Gehörbildungs- und Musiklehrebücher und CDs mitschleppte und mich irgendwann fragte, warum ich eigentlich meine halbe Bibliothek im Auto herumfahre. Ich hatte keine Zeit und Lust mehr, jeden Abend eine zusätzliche Büchertasche heimzutragen und für den nächsten Tag neu zu organisieren. Und so kam mir die für so individuellen Unterricht, wie es der Klavierunterricht eigentlich ist, schockierende Idee: warum nicht alle über einen Kamm scheren und wochenweise mit allen das Gleiche machen? Ich führe das erst seit diesem Schuljahr durch und kann schon jetzt sagen, daß es eine große Erleichterung ist. Ich trage nur noch einen Bruchteil der zusätzlichen Bücher mit mir herum und kann mich dadurch auch mehr auf das Motto der Woche konzentrieren. Und ich schaffe es, bei jedem zumindest kurz dieses Thema anzuschneiden. Manchmal unmerklich, indem wir ausgehend von einem Stück kurz einen Sachverhalt wiederholen, manchmal mit ausgiebigen (= fünfminütigen) Übungen an der Tafel. Und egal, ob Erstklässler oder Abiturient: ich baue für jeden kleine Übungen auf seinem Wissensstand ein und habe das gute Gefühl, im Lauf der Wochen alles durchzunehmen. Der Ehrlichkeit halber sei gesagt, daß es natürlich nicht immer funktioniert… Eine Schülerin bereitete die musikalische Umrahmung für einen Vorlesenachmittag vor und  ein anderer brauchte unbedingt mehr Weihnachtslieder. Dann fällt das kleine Extra in der Woche eben flach. Ich hole es auch nicht nach (wegen Notizchaos), es geht dann einfach in der nächsten Woche weiter.

Ein anderer Parameter kommt ebenfalls oft zu kurz, und ich habe noch keinen Weg gefunden, damit besser umzugehen: der Wunsch, manche Werke auf CD anzuhören und darüber zu diskutieren, vielleicht sogar einen kleinen Interpretationsvergleich durchzuführen, oder aus Kunstbüchern Bilder auszusuchen, die zum aktuellen Stück passen, oder sogar mal einen Ausschnitt aus einer DVD anzuschauen… Solche Stunden wären so wichtig, sind aber normalerweise Luxus, den ich mir und den Schülern vielleicht in der Stunde vor den Sommerferien gönne. Außer es tritt die an sich bedauernswerte Situation ein, daß sich jemand den Arm gebrochen hat – die Kehrseite von Schmerzen und Unbequemlichkeiten ist, daß wir wochenlang Zeit haben, uns auf andere Art mit Musik zu beschäftigen. Und wenn ich  Monate später höre: „das ist doch schneller als der russische Pianist, den wir angehört haben“ oder „ich habe einen Film gesehen, in dem die Leute so angezogen waren wie in dem Schumann-Film“, dann bin ich glücklich und merke aber auch, daß es eindrucksvoller ist, Lerninhalte dann und wann nicht auf dem altbekannten Weg vermittelt zu bekommen. Deshalb hätte ich gern mehr Zeit für solche echten „Musikstunden“! Aber ich weiß auch, daß das, abgesehen von vielleicht zwei Stunden im Jahr, ein frommer Wunsch bleiben wird.

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Nachdem ich diese Woche mit Eva auf den Tasten und in ihrer Klavierschule die Namen der Noten wiederholt hatte, gab ich ihr meine Notenlernkarten und sagte ihr, sie solle damit üben, während ihre Schwester mit mir spielte. Auf einmal sah ich aus dem Augenwinkel kein Kind mehr, nur noch winzige Füßchen verkehrt herum auf dem Sofa: Eva lag auf dem Rücken unter dem Wohnzimmertisch aus Glas, auf dem sie die Karten ausgebreitet hatte.

Ich muß mich beherrschen, um nicht laut zu lachen: „Du kannst auch einfach die Karten umdrehen!“

Eva: “ Ich fand’s leichter, mich umzudrehen!“

So viel zu neuen Wegen der Wissensvermittlung – wir müssen unsere eingefahrenen erwachsenen Gehirne ganz schön entspannen und uns gedanklich öfter auf den Kopf stellen, um auf Ideen zu kommen, die Kindern mehr als ein müdes Lächeln entlocken!

Geschenkideen für Klavierspieler

Als wir Anfang September einen strahlend schönen Tag in Salzburg verbrachten, durfte auch ein Besuch in dem großen Notenladen beim Mozarteum nicht fehlen. Die riesige  Auswahl begeistert mich und es ist auch interessant, im Vergleich zu hier mehr von österreichischen Verlagen zu sehen. Mit mir waren zwei Mädchen, ca. 8 und 10,  im Geschäft mit einer langen Einkaufsliste für ihren Geigen- und Cello-Unterricht. Als dem geduldig wartenden Vater an der Kasse dann eine Rechnung von über 200 Euro präsentiert wurde,  fächelte er sich mit der Kreditkarte zu und sagte zu mir: „Ganz schön heiß hier, oder?“

Wenn Ihnen so ein Erlebnis nicht fremd ist, wäre  es doch eine gute Idee, manche benötigten Noten als Geschenke zu deklarieren. Vielleicht kann man so einen Teil der Musikausbildungskosten auch dezent auf Großeltern oder Paten umlegen…. Dabei gehe ich davon aus, daß die klassische Unterrichtsliteratur vorhanden ist. DSCF0415Sollte auf dem Gebiet noch Ergänzungsbedarf bestehen, habe ich auch jederzeit Ideen für die einzelnen Schüler! Die Noten, die ich hier empfehle, sind, obwohl sie pädagogisch wertvoll sind, eher aus dem Filmmusik-/ Popbereich und werden sehr gern neben den herkömmlichen Unterrichtsstücken gespielt. Einige davon könnten auch Lieblingsstücke werden – Tiersens „Comptine“ oder Winstons „Carol of the Bells“ sind solche Dauerbrenner. 

Ich kann es mir nicht verkneifen, im kursiven Absatz auch für jede Altersgruppe ein Buch zu empfehlen, das ich entweder früher schon gern gelesen habe oder, wie die „Kleine Hexe“, jetzt entdeckt habe. Ich bekomme auf die Frage „Hast du (…) gelesen?“ immer öfter die Antwort „Nein, aber ich kenne den Film“, und ich finde, da sollten wir alle gegensteuern! Drei meiner Vorschläge spielen zu Zeiten oder wurden geschrieben, als Mädchen noch Kleider trugen und Frauen lange raschelnde Röcke. Da wir uns in der Klaviermusik oft in früheren Jahrhunderten aufhalten, finde ich, man sollte auch etwas über das Leben in der Zeit wissen.

 

6 – 8 Jahre

 

Tamara Scheps, Die Reise mit dem Rhythmuszug (Schott, 16,95)

Ein Lern-Kartenspiel, das alle meine Schüler kennen und mögen. Kann allein gespielt werden, aber lustiger ist es, mit jemand zusammen zu klatschen und einzelne Takte auswendig zu lernen.

Marko Simsa, Tina spielt Klavier (Annette Betz, 19,95)

Bilderbuch mit CD zur Geschichte der Tasteninstrumente

Mozart. Das Wunderkind aus Salzburg (CD, Universal Family /Oetinger, 10,95)

Der Klassiker unter den Kinder-Komponisten-CDs

Yvonne Adair, Little Dog Tales (Boosey & Hawkes, 8,95)

Kurze Klavierstückchen, die Leben und Charakter einer Hundemutter und ihrer Jungen anschaulich erzählen

Lieve Baeten, „Die kleine Hexe feiert Weihnachten“

Das liebevoll illustrierte Bilderbuch erzählt, wie die  kleine Hexe den Weihnachtsabend in ihrem Baumhaus verbringt. 

 

 

9 – 11 Jahre

 

Pferde. Leichte Klavierstücke mit dem Tastenkrokodil (Breitkopf & Härtel, 11,50)

Eine Auswahl guter Unterrichtsliteratur für fortgeschrittene Anfänger, vor allem die jungen Damen unter ihnen, die die Zeit lieber im Stall als am Klavier verbringen würden…

Die Reihe „Wir entdecken Komponisten“ im Betz-Verlag, Bilderbuch und CD je 19,95

Schön gestaltete Einführungen in Leben und Werk einzelner Komponisten

Frances Hodgson Burnett, „Der geheime Garten“

Ein Kinderbuch-Klassiker, den viele anscheinend nur als Film kennen. Es gibt eine schön illustrierte Ausgabe im Gerstenberg-Verlag.

 

 

12 – 15 Jahre

 

Leonard Bernstein, Konzert für junge Leute:

Die Welt der Musik in 15 Kapiteln (cbj, 9.-)

Nicht nur für junge Leute lesenswert! Es gibt auch eine separate CD dazu (19,50).

Yann Tiersen, 6 pièces pour piano 2 (27,90)

Seit Jahren sehr beliebte Stücke aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“

CD mit der ganzen Filmmusik: EMI, 17,95

J.S.Bach, Weihnachtsoratorium  mit John Eliot Gardiner, ca. 30.-

Keine Klaviermusik, aber es ist immer wichtig, auch andere Werke großer Klavierkomponisten kennenzulernen, und das Weihnachtsoratorium ist zu jeder Jahreszeit wunderbar und ohne Zweifel ein Geschenk fürs Leben.

Joan Aiken, „Wölfe ums Schloß“

Eher für die jüngeren in dieser Altersgruppe. Die aktuelle dtv-Ausgabe hat ein Cover, das viel grusliger ist als die Geschichte! Ich habe vor drei Jahren noch die schön gebundene Ausgabe der ZEIT-Kinderbuch-Edition verschenkt, weiß aber nicht, ob sie noch erhältlich ist.

 

 

15 – 19 Jahre

George Winston, Piano Solos (HalLeonard, 17,95)

Gut geschriebene populäre Stücke, nicht immer leicht.

DVD „Im Prestissimo“ (21,95 über BR-Shop)

Eine Geschichte der Klavier-Etüde vom 19. Jahrhundert bis jetzt. Susanne Anatchkova spielt mit bewundernswerter entspannter Technik die schwersten Etüden, zum Teil in aktuellen Konzertmitschnitten, zum Teil in Kostümen und in historischen Räumlichkeiten gedreht. Manche sagen, die Verkleidung wäre nicht nötig gewesen, aber ich finde es für Schüler gerade gut, um einen Eindruck der jeweiligen Lebensumstände zu bekommen.

DVD „Frühlingssinfonie“ (9,95)

Nastassja Kinski und Herbert Grönemeyer als Clara und Robert Schumann in einer authentischen und sorgfältig recherchierten Verfilmung von 1983. Detailtreue bis ins kleinste Biedermeier-Tapetenmuster, ruhiges Erzähltempo, Konzentration auf die Musik und vor allem Klaviermusik fügen sich zu einem eindrucksvollen Zeitgemälde. Kommt es mir nur so vor, oder werden solche Filme immer seltener?

Charlotte Bronte, „Jane Eyre“

Dieses Buch liest man zum ersten Mal mit 17 und dann immer wieder! Obwohl es stellenweise etwas pathetisch ist und am Schluß eine Prise damals üblicher Schauerromantik nicht fehlt, hat es mich als Jugendliche sehr beeindruckt. Jane wurde mein Vorbild dafür, daß eine Frau durch eine gute Ausbildung und mit der richtigen inneren Haltung in jeder Lebenssituation bestehen kann. Obwohl zu Lebzeiten Schumanns geschrieben, ist diese Botschaft immer noch aktuell.

 

Es lebe die Tonleiter!

Die schönsten Momente in den letzten Schulwochen waren die Minuten vor Unterrichtsbeginn, wenn ich im Erdinger Gymnasium meine Sachen ordnete und in den Übezimmern nebenan meine beiden Abiturientinnen Elisabeth und Anna sich munter und flott durch den ganzen Quintenzirkel spielten. Gleichzeitig, aber in verschiedenen Zimmern. Sie wussten nicht, daß ich sie hörte, und ich musste immer wieder innehalten, um zuzuhören und um glücklich zu sein, weil sie freiwillig früher kamen, sich freiwillig derartig einspielen und wohl spüren, daß es ihnen geistig und körperlich guttut. Elisabeth brauchte die Tonleitern für ihre Aufnahmeprüfung (in diesen Tagen wird sie ihr Musikstudium aufnehmen), und ich war einfach zufrieden und beglückt, daß ich beide mit einer so gepflegten Technik ins Leben und zu anderen, besseren Lehrern entlassen kann. Und dieses lockere in-den-Fingern-haben und Beherrschen eines zwar bescheidenen,  aber doch wichtigen Kulturguts war für mich symbolhaft für den Punkt, an dem sie jetzt angekommen waren: die Abiturprüfungen hinter sich, viel Wissen in sich und an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Doch leider ist es nicht immer so, daß Tonleitern so gerne und beschwingt gespielt werden. Nachdem ich gestern bei den freiwilligen Leistungsprüfungen in der Musikschule viele, viele Tonleitern hören durfte und mit Kollegen und Eltern darüber diskutierte, muß ich ein paar Gedanken zum Skalenspiel loswerden. Wie kann es sein, daß eine so simple und selbstverständliche Sache so viele Fragen aufwirft?

Es ist eine traurige Tatsache, daß Tonleitern allgemein unbeliebt sind. Viele Eltern oder andere, die früher Klavierstunden hatten, erzählen, daß es ihnen Spaß machte, bis sie diese furchtbaren Tonleitern spielen mussten – „mein Daumen war immer zu laut“ oder „ich konnte nie beide Hände gleichzeitig“ sind die häufigsten Kommentare. Stumpfsinniges, stundenlanges Tonleiterspiel erinnert auch an die Zeit der berüchtigten „schwarzen“ Klavierpädagogik im 19. Jahrhundert, von der wir uns als aufgeklärte Menschen natürlich distanzieren.  Aber woher kommt der schlechte Ruf dieser harmlosen Übung?  Mögen wir Klavierlehrer am Ende die Tonleitern auch nicht und vermitteln deshalb ein schlechtes Bild? Oder haben wir Angst davor, weil sie eines der wenigen Mittel sind, anhand derer man das Können oder den Fortschritt eines Schülers objektiv messen kann?

Eine schöne gespielte Tonleiter kann ein wunderbarer Start in einen erfolgreichen Übetag sein. Man registriert seine körperliche Verfassung, merkt, ob man vielleicht noch ein bißchen müde ist oder ob die kleinsten Muskeln schon hellwach sind, registriert auch die Verfassung des Klaviers – hat sich der Regen in der Nacht oder der heiße Tag gestern auf die Mechanik ausgewirkt? Kurzum, es ist eine wichtige Bestandsaufnahme, und wenn man die Übung etwas ausweitet, einfach perfekt, um sich geistig und körperlich zu sammeln und aufzuwärmen. (Für mich steht in den letzten Jahren die Sammlung im Vordergrund – bei einem so vollen Leben und mit so viel Plänen und Ideen für den jeweiligen Tag im Kopf brauche ich tatsächlich Zeit, um am Klavier anzukommen. Früher war das nicht so!)  Und was spielen weltberühmte Geiger, die die gesamte Literatur in den Fingern haben, wenn sie ein unbekanntes Instrument ausprobieren? Eine Tonleiter, oft sogar eine langsame, um wirklich alle Farben und Möglichkeiten der Geige zu erspüren und zu hören!

Als Kind und Jugendliche durfte/musste ich alle Tonleitern spielen, jahrelang rauf und runter, und die Dreiklänge auch noch dazu. Ich bin meiner Lehrerin dankbar dafür, denn ich zehre heute noch von den Fertigkeiten, die ich damals entwickelt habe, und ich bin auch sicher, daß es sich positiv aufs Blattspiel auswirkt. Im Methodikunterricht an der Hochschule legte Frau Prof. Thauer ebenso viel Wert auf schön gespielte Tonleitern – der wöchentliche Unterricht unserer Lehrprobenschüler begann immer mit einer Tonleiter, bei der wir uns mit rhythmischen oder Artikulationsänderungen einige Minuten aufhielten. Denn abgesehen vom theoretischen Rüstzeug, das man beim Skalenspiel mitbekommt, kann man sich bei diesen leichteren, immer gleich bleibenden Übungen sehr gut um Hand- und Körperhaltung kümmern und die Aufmerksamkeit des Schülers auf eventuelle Fehlhaltungen lenken.

Daher sind Tonleitern auch in meinem Unterricht ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer soliden Technik. Ich beginne mit den Anfängern mit Fünftonübungen in verschieden Tonarten. Diese Übungen sind sehr gut, um sich auf dem Klavier zu orientieren, die ersten Vorzeichen kennenzulernen, und natürlich, um eine gute Handhaltung und Kraft in den Fingern zu entwickeln. Wir spielen sie spiegelbildlich vor und zurück oder in die gleiche Richtung, dann staccato und legato oder mit unterschiedlichen Rhythmen. Falls Murren oder Langeweile aufkommt, lasse ich die Schüler würfeln, wie oft eine Übung gespielt wird – ein Urteil, das ohne Diskussion akzeptiert wird und besonders im Gruppenunterricht zu „nochmal, nochmal!“ führt. Sind die Kinder fit in diesen kleinen Übungen, gehen wir allmählich zu einer ganzen Tonleiter über, die wir am Anfang wegen der gleichen Fingersätze spiegelbildlich spielen. Erst wenn sich das gesetzt hat  und mehrere Tonarten bekannt sind – es kann Monate oder Jahre dauern – , beginnen wir mit der „schweren“  Tonleiter in eine Richtung über zwei Oktaven. Mit der erwähnten Vorarbeit ist es jetzt gar nicht mehr schwer, vor allem, wenn die Schüler unvoreingenommen an die Sache herangehen und noch nichts Negatives über Tonleitern gehört haben. Und dann begleiten uns die Tonleitern mehr oder weniger freiwillig  jahrelang, mit viel Nutzen für brillante Stellen in Sonaten oder klar artikulierte Läufe in Bachs „Französischen Suiten“. Und falls wieder der berühmte Eröffnungssatz kommt: „Ich konnte nicht üben, weil sich mein Hamster übergeben hat“, kann man mühelos eine ganze Klavierstunde mit schön und liebevoll gespielten Tonleitern verbringen und hat als Lehrer noch das gute Gefühl, den Schüler durch dieses Sondertraining ein Stück weiter gebracht zu haben.

Als ich meine sechs Schüler im April zur Prüfung anmeldete, machte ich mit ihnen aus, daß die Tonleitern wie gewohnt mit beiden Händen über zwei Oktaven gespielt werden und im Anschluß daran die Arpeggien folgen. Obwohl die Musikschule für dieses Jahr die Bedingungen noch dahingehend lockerte, daß man auch einstimmig hätte spielen können, blieb ich dabei, denn schließlich konnten es alle schon so. Und mit der langen Vorbereitungszeit war es für keinen ein Problem. Mir war auch wichtig, daß die Tonleiter nicht nur runtergerattert wird, sondern als kleines musikalisches Ereignis präsentiert wird, mit bewußtem Anfang und schönem Schluß und einem kleinen cresc. – decresc. dazwischen. Es sieht einfach professioneller aus, wenn man auch so einen kleinen Teil der Prüfung ernst nimmt und so schön wie möglich spielt, und ich muß sagen, daß meine Schüler gestern schon sehr nah an diese Wunschvorstellung herankamen. Ich bin oft genug in Juries gesessen, um zu wissen, daß es gewisse Ermüdungsphasen gibt, wenn man sieben Stunden lang gleichaltrige Kinder die gleichen Pflichtstücke spielen hört, und wenn sich jemand bei Kleinigkeiten wie dem Auftreten, dem Begrüssen oder dem sorgfältigen Absolvieren von Pflichtübungen Mühe gibt, ist das immer eine große Freude. Und für die Schüler, denke ich, auch ein Gewinn und ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Wer zeigt, daß er solche vielleicht ungeliebten Kleinigkeiten ernst nimmt und gut abliefern kann, dem kann man auch verantwortungsvollere Aufgaben anvertrauen.

(veröffentlicht in „Pianonews “ 6/2010)