Wunder

P1020880Manchmal werden Kinderchen zu mir gebracht, die schlapp und gummiartig am Arm ihrer Mutter hängen und sich kaum mehr auf eigenen Beinen halten können. Bilder des Jammers. (Fortgeschritten in der Kunst des Simulierens?) Während sie irgendwo in Nabelhöhe von Erwachsenen den Kopf hängen lassen, erklären mir die Mütter, dass es XY heute gar nicht gut geht und ob wir es einfach probieren können und wenn es gar nicht geht, soll ich anrufen. Wobei das Kind unsere stumme, aber intensive Augenkommunikatione nicht mitkriegt, die sich durchs ganze Spektrum „weiss auch nicht, was sie heute hat/ bin am Ende mit den Nerven, bitte nehmen Sie mir dieses Kind für eine halbe Stunde ab/ irgendwas stimmt nicht, aber ich hab einen dringenden Termin, bitte versuchen Sie es“ zieht. Hier handelt es sich um Grundschulkinder – wenn die älteren heftigen Weltschmerz oder ähnliches haben, sagen sie meistens ab. Worüber ich froh bin. An einen verschlossenen Pubertierenden ranzukommen ist ungleich schwerer…

Falscher Weg: Mitgefühl zeigen, das Kindchen bedauern, gar noch fragen, was denn los ist. Wird alles mit Schweigen und noch mehr ins Schneckenhaus- Zurückziehen quittiert.

Neuester, erfolgreicher Trick: Betriebsamkeit vortäuschen, erst mal in der Küche nach Glasreiniger und Mikrofasertuch kruschteln, dem Kindchen erklären, dass irgendwer heute klebrige Finger gehabt haben muss und wir kurz den Flügel putzen müssen. Kind kriegt die Sprayflasche und wird gebeten, auf die Tasten zu sprühen. Die meisten sind das grosse Ding nicht gewöhnt und sprühen so vorsichtig, dass es nur leicht senkrecht nach unten tropft. „Jetzt noch mal, baller drauf wie James Bond!“ Das gibt schon ein ganz anderes Ergebnis. Und da wir schon dabei sind, machen wir auch noch das Pult und den Deckel und die Seiten sauber, bis der Flügel strahlt wie am Tag seiner Auslieferung. Das vor ein paar Minuten noch unansprechbar schlappe Wesen hat grossen Spass, lacht sogar mal, möchte mal wieder in den Flügel reingucken und mit den Fingernägeln auf den Saiten Engelsmusik machen – und wird wieder ernst: „Hast du schon mal einen Engel gesehen?“ Kleines Pling an den Saiten, beiläufiges Gucken. Hm, nein, warum? Weil jeder von Engeln erzählt, aber seine Mama hat noch keinen gesehen und der Papa auch nicht. Und er selber auch nicht. Deshalb – ob ich glaube, ob es überhaupt Engel gibt. Wir reden lang über Engel oder Boten oder einfach gute Wesen, während er an den Saiten zupft und mich nicht anschaut. Aber ich bemerke die echte Verstörung, das Schwanken seines Weltbilds. Und dann – das Baby. Ob ich glaube, ob es das Baby gab. Welches Baby? Na, das an Weihnachten, ob ich glaube, dass da echt Könige mit Geschenken gekommen sind. Das geht doch eigentlich nicht. O wei. Wir reden, so lange er das möchte. Können die brennenden Fragen überhaupt nicht klären (Überraschung), und er ist ohnehin ein in sich gekehrter Grübler. Das wird ihn noch lange beschäftigen (Jahrzehnte?!), aber plötzlich: „Ich kann „Kommet ihr Hirten“ mit beiden Händen, willst du es hören?“ Und wir haben eine wunderbare restliche Klavierstunde, nach der er seiner Mutter entgegen rast und von einem Fuss auf den anderen hüpfend erzählt, dass wir noch ein Weihnachtslied angefangen haben. Und alles scheint wieder gut zu sein… Der Glasreiniger scheint mehr als das Klavier geklärt zu haben, oder zumindest äusserlich in Ordnung gebracht zu haben.

DSCF7916Wenn ich länger drüber nachdenke, fällt mir auf, dass kaum ein Alter statisch oder in zwei Worten fassbar ist. Irgendwie sind diese kleinen Seelen ständig im Übergang. Und schon wieder im nächsten. Bevor ich so viel mit jüngeren Kindern zu tun hatte, dachte ich, es gibt halt frühe Kindheit, Grundschulkindheit und dann die ganz grosse Umwälzung der Pubertät. Jetzt sehe ich, wie unendlich viele Abstufungen es gibt, die man berücksichtigen sollte. Und dass sie bei jedem Kind zu einer anderen Zeit beginnen. Und auch nicht unbedingt in der gleichen Reihenfolge auftreten. Ich muss meine Schüler fast monatlich neu „vermessen“, um zu verstehen, wo sie grade sind und was sie brauchen. Wenn Wackelzähne mitten in der Klavierstunde ausfallen, ist das ein Zeichen dafür, dass noch mehr im Übergang ist. Das bisschen Blut ist weniger schlimm als die Seelenqualen, wenn sie mich fragen, ob ich schon mal einen Engel gesehen habe. Und wenn mir das gleiche kleine Menschlein cool weismachen will, dass es den Nikolaus nicht gibt, sehe ich, dass grade das ganze Weltbild im Schwanken ist. Manche machen es mit sich selber aus, andere wollen fast die ganze Klavierstunde drüber reden und ich bin mir der Verantwortung bewusst, dass, was ich antworte, eine Wirkung haben kann.

Kinder merken sofort, wenn sie verschaukelt oder nicht ernst genommen werden. Da bleibt nur: aufrichtig und nach bestem Wissen und Gewissen zu antworten. Aber heimlich wünsche ich mir, dass jeder so lange wie möglich im Zustand des Wunderns bleiben kann. Oder sich irgendwo in seinem Herzen die Fähigkeit bewahrt, an eigentlich unglaubliche Dinge zu glauben. Das wäre doch das Schönste, was wir Kindern mitgeben können.

P.S.: Wie immer kommt der Knüller am Nachmittag, nachdem ich einen Blogartikel veröffentlicht habe: da hat mir tatsächlich eine Neunjährige erzählt, dass der Nikolaus letztes Jahr der Biobauer war. Zu erkennen an den Gummistiefeln.

Jetzt bin ich von uns allen die letzte, die an den Nikolaus glaubt.

4 Gedanken zu „Wunder

  1. Hallo , meine liebe Tochter ,
    wie machst Du das bloß ? Deine Lebensweisheit ist enorm und Du triffst anscheinend immer wieder den richtigen Punkt .
    Mache weiter so und werde den Dir anvertrauten Kindern zum
    Segen .
    Danke , Mama

  2. Liebe Martina,
    …somit wäre bewiesen, dass es Engel gibt – Du bist ja selbst einer.

    Ein Glück, dass man Wunder finden kann, auch wenn der Nikolaus manchmal Gummistiefel trägt 😉

    Alles Liebe wünscht Dir Sabine

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