Mit Helena muß ich Doppeldominanten schriftlich üben, Simon soll im Quintenzirkel fit werden, Eva braucht ein paar lange Extraminuten fürs Notenlesen, Elisabeth schreibt wahrscheinlich eine Ex über Intervalle und Julia möchte wissen, wie man Weihnachtslieder selber begleitet. Das waren zum Beispiel diese Woche die kleinen Zugaben zu dem, was ich ohnehin in die reguläre Unterrichtsstunde, sprich: dem tatsächlichen Klavierspielen, quetschen wollte. Wenn ich bedenke, daß vieles im Gruppenunterricht stattfindet und die Zeit unendlich kostbar ist, muß ich mir gut überlegen, wie ich sicherstellen kann, daß meine Schüler mit den Monaten und Jahren wirklich umfassend ausgebildet werden. Natürlich abgesehen davon, daß sie eine sichere Spieltechnik, eine entspannte Haltung, stilistische Sicherheit und Auftrittsroutine entwickeln sollen… Mein oberstes Ziel ist es ja, als Lehrer lieber früher als später überflüssig zu werden. Ich will, daß meine Schüler sich alle Fragen selber beantworten können, sei es in Theorie oder spieltechnisch. Und ich will, daß sie nicht nur Klavier spielen können, sondern sich in Theorie und Musikgeschichte auskennen und vor allem Querverbindungen herstellen können und bei Bedarf auch das theoretische Rüstzeug haben, um selber kreativ tätig zu werden. Das heißt: ich möchte in meinen Unterricht regelmäßige Übungen einbauen in
Gehörbildung,
elementarer Musiklehre wie Tonleitern, Intervalle, Dreiklänge, Kadenzen,
Rhythmusübungen,
Blattspiel
Vierhändigspiel
Improvisation (heikles Thema – ich bin selber gar nicht fit darin und mache es nur mit Schülern, die sich dabei wohl fühlen. Dabei können dann aber wunderschöne Stücke entstehen!)
Zusätzlich zu den Anmerkungen, die ich mir zum tatsächlichen Klavierspielen während des Unterrichtens bei den einzelnen Schülern aufschreibe, entsteht dazu noch eine wie verrückt hingekritzelte Liste ähnlich wie in der Einleitung, und bei im Moment 48 Schülern artet das früher oder später in Organisationschaos aus. Vor allem, was das Material betrifft – es gab Wochen, in denen ich meine komplette Karten- und Würfelspielsammlung, Gehörbildungs- und Musiklehrebücher und CDs mitschleppte und mich irgendwann fragte, warum ich eigentlich meine halbe Bibliothek im Auto herumfahre. Ich hatte keine Zeit und Lust mehr, jeden Abend eine zusätzliche Büchertasche heimzutragen und für den nächsten Tag neu zu organisieren. Und so kam mir die für so individuellen Unterricht, wie es der Klavierunterricht eigentlich ist, schockierende Idee: warum nicht alle über einen Kamm scheren und wochenweise mit allen das Gleiche machen? Ich führe das erst seit diesem Schuljahr durch und kann schon jetzt sagen, daß es eine große Erleichterung ist. Ich trage nur noch einen Bruchteil der zusätzlichen Bücher mit mir herum und kann mich dadurch auch mehr auf das Motto der Woche konzentrieren. Und ich schaffe es, bei jedem zumindest kurz dieses Thema anzuschneiden. Manchmal unmerklich, indem wir ausgehend von einem Stück kurz einen Sachverhalt wiederholen, manchmal mit ausgiebigen (= fünfminütigen) Übungen an der Tafel. Und egal, ob Erstklässler oder Abiturient: ich baue für jeden kleine Übungen auf seinem Wissensstand ein und habe das gute Gefühl, im Lauf der Wochen alles durchzunehmen. Der Ehrlichkeit halber sei gesagt, daß es natürlich nicht immer funktioniert… Eine Schülerin bereitete die musikalische Umrahmung für einen Vorlesenachmittag vor und ein anderer brauchte unbedingt mehr Weihnachtslieder. Dann fällt das kleine Extra in der Woche eben flach. Ich hole es auch nicht nach (wegen Notizchaos), es geht dann einfach in der nächsten Woche weiter.
Ein anderer Parameter kommt ebenfalls oft zu kurz, und ich habe noch keinen Weg gefunden, damit besser umzugehen: der Wunsch, manche Werke auf CD anzuhören und darüber zu diskutieren, vielleicht sogar einen kleinen Interpretationsvergleich durchzuführen, oder aus Kunstbüchern Bilder auszusuchen, die zum aktuellen Stück passen, oder sogar mal einen Ausschnitt aus einer DVD anzuschauen… Solche Stunden wären so wichtig, sind aber normalerweise Luxus, den ich mir und den Schülern vielleicht in der Stunde vor den Sommerferien gönne. Außer es tritt die an sich bedauernswerte Situation ein, daß sich jemand den Arm gebrochen hat – die Kehrseite von Schmerzen und Unbequemlichkeiten ist, daß wir wochenlang Zeit haben, uns auf andere Art mit Musik zu beschäftigen. Und wenn ich Monate später höre: „das ist doch schneller als der russische Pianist, den wir angehört haben“ oder „ich habe einen Film gesehen, in dem die Leute so angezogen waren wie in dem Schumann-Film“, dann bin ich glücklich und merke aber auch, daß es eindrucksvoller ist, Lerninhalte dann und wann nicht auf dem altbekannten Weg vermittelt zu bekommen. Deshalb hätte ich gern mehr Zeit für solche echten „Musikstunden“! Aber ich weiß auch, daß das, abgesehen von vielleicht zwei Stunden im Jahr, ein frommer Wunsch bleiben wird.
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Nachdem ich diese Woche mit Eva auf den Tasten und in ihrer Klavierschule die Namen der Noten wiederholt hatte, gab ich ihr meine Notenlernkarten und sagte ihr, sie solle damit üben, während ihre Schwester mit mir spielte. Auf einmal sah ich aus dem Augenwinkel kein Kind mehr, nur noch winzige Füßchen verkehrt herum auf dem Sofa: Eva lag auf dem Rücken unter dem Wohnzimmertisch aus Glas, auf dem sie die Karten ausgebreitet hatte.
Ich muß mich beherrschen, um nicht laut zu lachen: „Du kannst auch einfach die Karten umdrehen!“
Eva: “ Ich fand’s leichter, mich umzudrehen!“
So viel zu neuen Wegen der Wissensvermittlung – wir müssen unsere eingefahrenen erwachsenen Gehirne ganz schön entspannen und uns gedanklich öfter auf den Kopf stellen, um auf Ideen zu kommen, die Kindern mehr als ein müdes Lächeln entlocken!